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276 „Menschenökonomie“ unter Zwang
oder dementsprechend in Betrieben mit sinkender Betriebsgröße, schließlich e) im
Bereich steigender industrieller und gewerblicher Arbeitsmöglichkeiten auf land-
wirtschaftlichen Betrieben mit Taglöhnerverfassung (östliches Niederdonau)“.77
Demzufolge verzeichneten die Bergregionen im Nord- und Südwesten sowie das
Flachland im Osten Niederdonaus, und hier wiederum die klein- und mittelbäu-
erlichen Betriebe, überdurchschnittliche Verluste an landwirtschaftlichen Arbeits-
kräften.
Die „Landwirtschaftsflucht“ zeigte nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche
Beschränkungen. Bereits im Frühjahr 1939, nach dem Höhepunkt im Herbst 1938,
wurde ein Rückgang der Abwanderungsbewegung festgestellt. Nur selten entschie-
den sich bäuerliche Familienangehörige „über das als natürlich zu bezeichnende
Maß hinaus“ zur Abwanderung. Ein Abwanderungsmotiv bildete die mangelnde
Versorgung der Geschwister eines Hoferben, die durch das REG vor allem in den
Gebieten mit verbreiteter Realteilung im Osten Niederdonaus festgeschrieben
worden war.78 Das Nachlassen der Abwanderung familienfremder Arbeitskräfte
war auf die Verordnungen zur Sicherstellung des Kräftebedarfs im Landbau zu-
rückzuführen. Dennoch gelang einer beträchtlichen Zahl der Landarbeiter/-innen
die „etappenweise Flucht“ über die Forstwirtschaft zu Industrie und Gewerbe. Da-
rüber hinaus war zu beobachten, dass sich Landarbeiter/-innen durch oftmaliges
Wechseln des Dienstplatzes bessere Arbeits- und Lohnbedingungen verschaffen
wollten.79 Trotz der zahlreichen Lücken im landwirtschaftlichen „Arbeitseinsatz“,
die dem Eigensinn der Landarbeitskräfte Tür und Tor öffneten, sah Ludwig Löhr
im Sommer 1939 eine Lösung des Landfluchtproblems in Griffweite :
„Man hofft, daß es den Arbeitsämtern in Zusammenarbeit mit den Kreisbauernschaf-
ten in Zukunft gelingt, jede Abwanderung und jeden unbegründeten Wechsel des
Arbeitsplatzes zu verhindern. Schon heute werden Landflüchtige, sobald sie bekannt
werden, der Landwirtschaft sofort wieder zurückvermittelt. Allerdings werden diese
Fälle vielfach nur durch private Anzeigen bekannt, weil eine umfassende behördli-
che Ausforschung teilweise noch fehlt. Die Zahl der Landflüchtigen übersteigt daher
heute noch immer die Zahl der wieder dem Landbau zurückgeführten Menschen. Die
allzu späte Einführung des Arbeitsbuches wird in diesem Zusammenhang beklagt.“80
Die Erfüllung dieser Hoffnung rückte wenige Wochen später, mit der Beschrän-
kung des Arbeitsplatzwechsels ab Kriegsbeginn im September 1939, in Griffweite.
Doch nach der vermeintlichen Lösung des Landfluchtproblems erwuchs der po-
litisch gesteuerten „Menschenökonomie“ ein neues Problem, dessen (Not-)Lö-
sungsversuche die Arbeitsämter bis Kriegende in Atem hielten : der Ersatz der
zum Militärdienst einberufenen Landarbeitskräfte.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937