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278 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Die verordnete Kooperation im Rahmen des „Reichseinsatzes“ stieß jedoch im-
mer wieder an den Rivalitäten einzelner Dienststellen im polykratischen Gefüge
des NS-Apparats an Grenzen.88 Vor allem der Masseneinsatz polnischer, belgi-
scher und französischer Kriegsgefangener und, in weiterer Folge, Zivilarbeiter/-in-
nen durch die Arbeitseinsatzverwaltung traf auf Widerstände des Polizeiapparates
unter Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS und Chef der Deutschen Poli-
zei.89 Einen Niederschlag fand dieser Systemkonflikt in Niederdonau im Frühjahr
1940 in der Debatte über den „Ausländereinsatz“ in den „Grenzkreisen“. Zwar
galt es unter den regionalen Amtsträgern als Common Sense, dass „in der Be-
schäftigung ausländischer Wanderarbeiter in grenznahen Großbetrieben gewisse
Gefahren liegen“ ;90 doch deren gänzlicher Wegfall wäre dann doch zu weit gegan-
gen. Um „volkstumspolitische Gefahren“ abzuwenden, hatte Heinrich Himmler
in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums
gebietsweise den Einsatz von „Polen“, „Magyaren“, „Südslawen“ und „Slowaken“
untersagt. Diese rassenpolitisch motivierte Anordnung schien, wie Josef Bürckel,
der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen
Reich, in seinem von der Landesbauernschaft Donauland entworfenen Schrei-
ben an die Vierjahresplanbehörde betonte, in mehrfacher Hinsicht unvereinbar
mit ernährungswirtschaftlichen Gesichtspunkten : Zunächst handle es sich bei
diesen „Grenzkreisen“ um die ertragreichsten Agrargebiete der Ostmark, in de-
nen auch Sonderkulturen wie Sojabohnen, Zuckerrüben und Gemüse angebaut
würden ; sodann könne der Ausfall ausländischer Landarbeitskräfte angesichts
des „außerordentlichen Mangels an landwirtschaftlichen Arbeitskräften“ durch
Inländer/-innen nicht ersetzt werden ; weiters sei die Frühjahrsbestellung durch
die ungünstige Witterung ohnehin in Verzug und müsse nun rasch durchgeführt
werden ; schließlich sei die bäuerliche Bevölkerung dieser Grenzgebiete aufgrund
ihrer langjährigen Erfahrungen „mit dem Einsatz und dem Umgang mit auslän-
dischen Arbeitskräften vertraut“.91 Der Ausgang dieser Debatte findet in den ver-
fügbaren Dokumenten zwar keinen Niederschlag ; doch lassen die Zahlen der in
den betreffenden Landkreisen eingesetzten Ausländer/-innen vermuten, dass sich
die ernährungswirtschaftliche Einschluss- gegenüber der rassenpolitischen Aus-
schlussstrategie weitgehend durchsetzte.92
Die Kluft zwischen den Ansprüchen des „Grenzlandschutzes“ und des „Ar-
beitseinsatzes“ im Frühjahr 1940 verdeutlicht eine Besprechung des Arbeitsamtes
Stockerau mit den regionalen NSDAP-Kreisleitern und Kreisbauernführern über
die „Maßnahmen, die im Hinblick auf den Ausfall an ausländischen Arbeitskräf-
ten, vor allem Wanderarbeitern, für die Frühjahrsbestellung und für die kommen-
den Erntearbeiten zu ergreifen sind“. Die Verfügbarkeit von Arbeitskräften aus
dem Protektorat, dem Generalgouvernement und den befreundeten Staaten des
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937