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296 „Menschenökonomie“ unter Zwang
wohl bildeten sich auch hier vielfach mehrjährige Arbeitsbeziehungen zwischen
den beteiligten Familien heraus (Abbildung 4.11).140
Schließlich erklärt die Bevorzugung der landwirtschaftlichen Intensivregionen
im Osten Niederdonaus gegenüber den extensiver genutzten Regionen im Wes-
ten durch die Arbeitsämter die wachsenden Dichten der ausländischen Zivilar-
beitskräfte in den Arbeitsamtsbezirken Gän sern dorf, der „Kornkammer der Ost-
mark“, und Znaim – entgegen der Gefahr der „fremdvölkischen Unterwanderung“
der Grenzkreise. So wandte Reichskommissar Josef Bürckel 1940 gegen die Be-
schränkung des „Ausländereinsatzes“ in den Grenzkreisen ein, „dass die in Frage
kommenden Gebiete die ertragreichsten der Ostmark sind und deren Ernte zum
wesentlichen Teil den Nahrungsmittelbedarf der übrigen Ostmark sicherstellt“.141
Im Rahmen des arbeitsteiligen „Reichseinsatzes“ forcierte die Arbeitseinsatzver-
waltung in Niederdonau den ernährungswirtschaftlich angeleiteten Einschluss der
ausländischen Arbeitskräfte entsprechend des regional unterschiedlichen Arbeits-
kräftebedarfs der landwirtschaftlichen Betriebe. Hingegen fiel der rassenideologisch
legitimierte Ausschluss der „Fremdvölkischen“ aus der „Betriebsgemeinschaft“ in
den Aufgabenbereich des Polizeiapparats unter Federführung der Gestapo.
Das Zahlenverhältnis der Geschlechter unter den ausländischen Zivilarbeits-
kräften verschob sich über die Jahre in allen vier Regionen zugunsten der Frauen –
ein Beleg für die wachsenden Schwierigkeiten, Männer für den „Reichseinsatz“ zu
rekrutieren. Im Raum des landwirtschaftlichen „Reichseinsatzes“ korreliert, wie ge-
zeigt, die Geschlechterproportion der ausländischen Zivilarbeiter/-innen mit den
östlich gelegenen Intensivregionen 1941, so auch mit Gän sern dorf und Znaim ;
hingegen bewegte sich die Zahl der Frauen pro 100 Männer in Amstetten und
Gmünd unter dem gauweiten Durchschnitt. Doch 1942/43 kehrte sich dieses Ver-
hältnis um, sodass 1944 letztere Arbeitsamtsbezirke höhere Geschlechterproporti-
onen als erstere aufwiesen. Diese Trendumkehr hing unter anderem mit dem mas-
senhaften Einsatz der „Ostarbeiter“ zusammen, worauf Gendarmerieberichte vom
Sommer 1942 aus dem Kreis Amstetten hinweisen : „Die Landarbeiterfrage hat sich
durch Zuteilung von namentlich russischen weiblichen Arbeitskräften etwas gebes-
sert.“142 Dennoch wurde weiterer Bedarf an „Ostarbeiterinnen“ angemeldet : „An
fremdländischen, landwirtschaftlichen Arbeitern herrscht noch immer Mangel, und
zwar hauptsächlich an weiblichen Hilfskräften.“143 Die aus den gesindereichen Be-
trieben im westlichen Niederdonau abgezogenen Fachkräfte für die Betreuung des
Viehs wurden offenbar zum Teil durch weibliche Arbeitskräfte aus dem Ausland,
vor allem durch „Ostarbeiterinnen“, ersetzt. Das Zahlenverhältnis von Frauen und
Männern nahm nicht stetig zu, sondern schwankte in der Regel zwischen höhe-
ren Sommer- und niedrigeren Winterwerten ; eine Ausnahme bildete Gmünd im
Winter 1943, als erst- und letztmalig mehr ausländische Zivilarbeiterinnen als Zi-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937