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304 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Bauern diese kranken Russen verpflegen müssen, ohne dass sie etwas leisten“.172
Diese Argumentation machte sich Paul Hönigl, der Verantwortliche für den „Ar-
beitseinsatz“ in der Behörde des Reichsstatthalters in Niederdonau, etwa einen
Monat später zu Eigen ; er forderte eine effizientere Selektion der „Zivilarbeiter“
aus den besetzten Ostgebieten.173
Gesundheit und Wohlbefinden galten nicht nur als Voraussetzungen der Leis-
tungsfähigkeit ; sie standen in der Arbeit im Allgemeinen, in der Forstarbeit im Be-
sonderen, auch auf dem Spiel. Das zeigen die Berichte über die mangelnde Ernäh-
rung und Bekleidung von sowjetischen und ungarisch-jüdischen Arbeitskräften,
wie jener des Landrats Lilienfeld vom Mai 1942 : „Der Einsatz dieser Ostarbeiter
ist besonders in der Forstwirtschaft schwer, weil diese Zivilarbeiter zu 95 % über-
haupt keine Fussbekleidung besitzen. Die Kleidung besteht zum grössten Teil aus
Fetzen.“174 Diese Versorgungsmängel begünstigten nicht nur Krankheiten, sondern
auch Verletzungen standen an der Tagesordnung, etwa bei der Holzarbeit.175 Dass
die mangelnde Erfahrung der ausländischen Arbeitskräfte in der Handhabung der
scharfen Werkzeuge, im Erkennen lebensbedrohender Situationen und im Trans-
portieren der tonnenschweren Baumstämme das Unfallrisiko erhöhte, blieb auch
den Behörden nicht verborgen. So berichtete der GP Waidhofen an der Ybbs im
Jänner 1942, „dass bei Verwendung von nichtgeschulten Arbeitskräften bei den
Holzschlägerungsarbeiten häufig Unfälle sich ereignen“.176
Unter diesen Bedingungen waren die Folgen des Einsatzes der großteils aus
städtisch-bürgerlichem Milieu stammenden ungarischen Jüdinnen und Juden – es
handelte sich durchwegs um „Händler, Gewerbetreibende, Lehrer, Ärzte usw.“177
–
in der Land- und Forstwirtschaft Niederdonaus ab der zweiten Jahreshälfte 1944
absehbar : „Für die Holzschlägerungsarbeiten waren diese Arbeitskräfte völlig un-
geeignet, da sie diese Arbeiten einfach nicht leisten konnten.“178 Dennoch wur-
den zahlreiche jüdischen Frauen und Männer auch über den Winter 1944/45 in
den Wäldern größerer Bauern- und Gutsbetriebe eingesetzt. Verletzungen standen
an der Tagesordnung, und immer wieder ereigneten sich Unfälle mit tödlichem
Ausgang.179 Im Jänner 1945 kam der 43-jährige Andreas Fleischer aus dem Ar-
beitslager der Kartause Aggsbach Dorf beim Holzfällen ums Leben – „aus eigener
Unvorsichtigkeit“, wie der anzeigende Gendarm nicht hinzuzufügen vergaß :
„Der im gleichen Lager beschäftigte ung. Jude Franz Szalay hatte einen Baum gefällt.
In diesem Moment kam der als schwerfällig geschilderte Jude in die Fallrichtung
des Baumes gelaufen. Obwohl Szalay den Juden Fleischer durch einen Achtungsruf
warnte, lief letzterer direkt in den niederstürzenden gefällten Baum. Der Jude wurde
von dem Baum derart schwer getroffen, daß er auf der Stelle verschied.“180
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937