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Arbeit als alltägliches Kräftefeld
Im Interesse der am Unfallgeschehen Beteiligten, aber auch der für den Einsatz
verantwortlichen Aufseher, Verwalter und Betriebsbesitzer/-innen stellte der Gen-
darm den Fall so dar, dass Zweifel an der Verschuldensfrage kaum aufkommen
konnten. Neben der Arbeit im Forst bestand auch bei der Feldarbeit für viele un-
garische Juden und Jüdinnen erhöhte Gefahr für Leib und Leben, etwa wegen des
mangelnden Luftschutzes während der Feldarbeit.181 Offenbar war das Interesse
der für den „Judeneinsatz“ Verantwortlichen, die Arbeitskraft dieser Menschen
nachhaltig zu sichern, äußerst gering.
Die meisten Arbeitsgänge in der Land- und Forstwirtschaft erforderten ein ho-
hes Maß an Kraft und Ausdauer. Die geschlechts- und generationenabhängige
Aufteilung der Tätigkeiten in der Land- und Forstwirtschaft war an diese materi-
ellen Erfordernisse angepasst ; in die häusliche Arbeitsteilung floss aber auch die
symbolische Ordnung der Geschlechter und Generationen ein : Die Hausarbeiten,
die Grundversorgung der Tiere im Stall sowie niederrangige Arbeiten auf dem
Feld galten zumeist als „Weiberarbeit“ ; spezialisierte, auf Marktproduktion ausge-
richtete Tätigkeiten, höherrangige Arbeiten auf dem Feld und die Arbeit im Forst
galten in erster Linie als „Männerarbeit“ ; einfache Hilfsdienste im Haus, im Stall
und auf dem Feld waren vor allem Kindern zugedacht. In kleineren Familienwirt-
schaften verschwammen die Grenzen dieser Arbeitsteilung ; in der Regel mussten
eher Frauen Männerarbeiten übernehmen als umgekehrt.182 Der Krieg brachte,
so scheint es, einige Unordnung in die gewohnte Arbeitsteilung. Vor allem in der
Forstwirtschaft stieß die Zuweisung von Frauen und Jugendlichen zwangsläufig
auf Widerstände. Nach dem Bericht des Landrats Lilienfeld vom Juni 1942 über
den Einsatz der „Ostarbeiter“ seien „14–16jährige Buben nicht geeignet, im ber-
gigen Gelände als Holzarbeiter eingesetzt zu werden, trotzdem erfolgt die Zuwei-
sung durch die Arbeitsämter“.183 Die Widersprüche zwischen „Einsatzlenkung“
und tradierter Arbeitsteilung schienen im waldreichen, gebirgigen Kreis Lilienfeld
auch im Dezember 1943 noch nicht beseitigt : „Die in den landw. Betrieben einge-
setzten Fremdvölkischen, zum überwiegenden Teil weibliche Kräfte, können in der
Regel zur Holzarbeit im bergigen Gebiete nicht verwendet werden, umsoweniger
als in vielen Höfen der Bauer selbst eingerückt ist und die Bäuerinnen nicht im-
stande sind, die Holzarbeiten zu leiten.“184 In der Beschreibung Helene Pawliks,
die einem Bauernbetrieb in Hafnerbach zugeteilt war, wird die körperliche An-
und Überforderung von ausländischen Frauen in den Wäldern fassbar : „Ich denke
oftmals, dass ich noch lebe, was ich im Wald gearbeitet habe. Holzhacken mit dem
Mann [Bauern], gearbeitet und gearbeitet und gearbeitet in meinem Leben. Und
Stöße machen im Winter, muss man arbeiten, viel arbeiten im Winter.“185 Der In-
halt des Gesprochenen, aber auch die sprachliche Form – „gearbeitet und gearbei-
tet und gearbeitet“ – lassen die Qualen der unablässigen, kräfteverzehrenden und
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937