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306 „Menschenökonomie“ unter Zwang
frostigen Arbeit in den winterlichen Wäldern erahnen. Wo kaum Solidarbeziehun-
gen zu den Familien der Dienstgeber/-innen bestanden, etwa beim Lagereinsatz
von Kriegsgefangenen, „Ostarbeitern“ sowie „ungarischen Juden“, konnten sich die
Ausländer/-innen der körperlichen Überanstrengung kaum entziehen. Hingegen
suchten in anderen Fällen die Schwächeren Bündnisse mit Stärkeren, wie Helene
Pawlik erzählt :
„Ende August ist es gewesen, da hat der Sohn [des Bauern] Urlaub gehabt, der zweite,
und der Bauer hat Wald abgeschlagen, Wald abgeschlagen, da ist draußen [auf den
Feldern] keine Arbeit mehr gewesen, da haben wir schon alle Sachen [Ernte] im
Stall gehabt, hat er gesagt, ich muss Holz holen vom Wald, und da muss ich auch
die Bäume, die Wipfel und auf der Seite die Äste abhacken und auf den Schubkar-
ren hinauflegen. Hab ich gesagt zum Sepp, äh, Fritz, sag ich : Fritz, du kannst dir
nicht vorstellen, dein Vater ist so garstig, ich kann nicht mehr und da muss ich noch
Schubkarren fahren. Ich hab ja schon in der Brust keine Milch mehr, sag ich, muss
das führen. Und danach ist er hingekommen zum Vater und hat ihm das gesagt. Hat
er gesagt : Wenn sie dir erbarmt, nimm sie mit nach Russland. Das hat er ihm zur
Antwort gegeben, das hab ich selbst gehört. Hat er gesagt, ich brauch ja das Holz im
Winter, sie muss Holz führen. Und so habe ich Holz geführt, ist mir nichts anderes
übrig geblieben. Dann hab ich Holz abgeschlagen und es ist so viel übrig geblieben.
Der hat kein Erbarmen übrig gehabt für Menschen, kein Erbarmen.“186
In dieser Szene überlagern sich klassen-, geschlechter- und rassenbezogene Zu-
schreibungen. Vom Standpunkt des Bauern aus betrachtet, zählt die polnische
Landarbeiterin
– ihr Status als Dienstbotin, Frau und Polin
– wenig ; daher scheint
es ihm gerechtfertigt, sie zu harter Körperarbeit zu zwingen. Die Frau sieht an-
gesichts der Überforderung in dessen Sohn einen möglichen Verbündeten ; ihm
gegenüber nimmt sie Bezug auf Geschlechterstereotypen, indem sie weibliche Zu-
schreibungen – das Versorgen des Kindes mit Muttermilch – für sich in Anspruch
nimmt und männliche Zuschreibungen
– das Fällen, Hacken und Heimführen des
Brennholzes – von sich weist. Die Beziehung zwischen der polnischen Landarbei-
terin und dem Bauernsohn erhält eine romantische Komponente zugesprochen.
Dafür spricht nicht nur die Verwechslung von dessen Vornamen mit dem Vorna-
men ihres Kindes ; auch eine vom Bauernsohn aufgenommene Fotografie, auf der
Helene Pawlik, einem verbreiteten Muster bäuerlicher Selbstdarstellung folgend,
im geborgten Sonntagskleid neben einem aufgezäumten Ochsen posiert, deutet
auf die romantische Beziehungskomponente hin (Abbildung 4.14). Letztlich be-
hielt die hausväterliche Gewalt die Oberhand ; mit den Worten : „Nimm sie mit
nach Russland“ wehrte er die Fürsprache des Sohnes ab. Auf diese Weise behaup-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937