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310 „Menschenökonomie“ unter Zwang
ich ihm deshalb Vorwürfe. Kaum das er mich erblickte warf er die Zigarette auf den
Boden und zertrat sie mit den Füßen.“
Laut Aussage des polnischen Landarbeiters hätte er „einen Spiegel vor das Gesicht
gehalten und mit einem Zündholz in einem Zahn herumgestochert, weil er angeb-
lich Zahnschmerzen gehabt habe“.198 Der Fall verdeutlicht die Wechselwirkungen
zwischen den Strategien der am landwirtschaftlichen Arbeitsgeschehen Beteilig-
ten : Bei mangelnder Verlässlichkeit verstärkten die Dienstgeber die Kontrolle ; bei
mangelnder Motivation erhöhten sie den Arbeitsdruck, notfalls auch mithilfe ei-
gener oder der staatlicher Gewalt. Zugleich ist auch anzunehmen, dass diese Res-
triktionen wiederum zur vielfach beklagten „Unzuverlässigkeit“ und „Faulheit“ der
Bediensteten beitrugen.
Die Versuche der Besitzer/-innen landwirtschaftlicher Betriebe, mangelnder
Verlässlichkeit und Motivation durch Kontrollen und Arbeitsdruck zu begeg-
nen, waren mannigfaltig ; ebenso vielfältig waren die Versuche der ausländischen
Landarbeiter/-innen, sich diesen Zwangsmaßnahmen zu entziehen. Die Spiel-
räume des Sich-Entziehens hingen von unterschiedlichen Bedingungen ab
– unter
anderem davon, ob der „Arbeitseinsatz“ einzeln oder kolonnenweise erfolgte. Un-
ter den Gruppen, die in Arbeitskolonnen zum Einsatz kamen, fanden die Familien
der „ungarischen Juden“ wohl die geringsten Spielräume vor. Davon zeugt etwa ein
von Aufsehern auf dem Acker inszenierter Wettstreit ukrainischer und polnischer
Männer gegen die ungarisch-jüdischen Frauen und Kinder, an den sich Julia Kádár
erinnert :
„Es gab zwei Arbeitsaufseher, die sie getrieben haben und die Frauen und die Kinder
mit diesen mächtigen, grobschlächtigen, für mich grobschlächtigen, großen Männern
wettstreiten ließen Also, sie arbeiteten in einer Reihe, so, dass die Mütter – sie haben
gemacht, dass sie vorrannten mit ihrer eigenen Arbeit und zurück rannten, um die
Arbeit der Kinder einzuholen, damit sie keinen Strafen und Brüllereien ausgesetzt
waren.“199
Die Angst um die Kinder wie die Angst vor Bestrafung ließ die Frauen ständig
zwischen vorgerückten und nachhinkenden Gliedern der Menschenkette hin- und
herhetzen – ein Dilemma, aus dem kein Ausweg möglich schien.
Andere Gruppen von kolonnenweise eingesetzten Ausländer/-innen verfügten
über größere Spielräume, um sich den Zwangsmaßnahmen der Betriebsleiter/-
innen zu entziehen. Dimitrij Filippovich Nelen kam im Sommer 1944 im Guts-
betrieb des Erzbistums Wien in Obersiebenbrunn zum Einsatz. Einem nach
Kriegsende angelegten Verzeichnis zufolge waren zu dieser Zeit 40 sowjetische
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937