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314 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Großen aufspielen“ wollte. Als Beleg für die Einbindung des „Fremdarbeiters“ in
die Bauernfamilie kommt die Erzählerin auf zwei Situationen zu sprechen : das
gemeinsame Essen, auf dem der Vater entgegen den Vorschriften bestanden habe,
und die gemeinsame Arbeit. „Ausnützen“ habe er sich nicht lassen : „Wir haben
ein Ross gehabt, das war recht ein ‚Geher‘. Mit dem Ross habe ich fahren müs-
sen, der ist nicht gefahren mit ihm. Das ist ihm zu schnell gegangen.“ Hingegen
habe er andere Arbeiten „gern gemacht“ : „Der hat auch geackert, was halt gerade
war […] Stark war er ja. Das hat ihn gefreut wenn er so eine Arbeit machen hat
können.“ Das „Ackern“, das Pflügen mit dem Pferde- oder Ochsengespann, sei
ihm lieber gewesen als das „Ochsenweisen“, das Lenken der Zugtiere.208 In diesen
Schilderungen wird ein wenig vom Eigensinn des ukrainischen Burschen fassbar :
Arbeiten, die er als Zumutung empfand, suchte er abzuwehren ; hingegen nahm er
andere Arbeiten als Anreize an. Alexius Schkelelej teilt mit anderen Landarbeitern
gleichen Alters, gleichen Geschlechts und gleicher Staatszugehörigkeit eine Über-
lebensstrategie, die das erzwungene Arbeiten und Leben in der Fremde erträglich
machte : Die An- und Überforderung der täglichen Verrichtungen auf dem Hof,
vor allem der prestigeträchtigen, den erwachsenen Männern zugedachten Arbei-
ten, wurde zur Herausforderung gewendet. Dies deckte sich vielfach mit der bäu-
erlichen Strategie, angesichts des herrschenden Arbeitskräftemangels verlässliche
und fleißige Dienstboten an den Hof zu binden. Für ausländische Frauen, das le-
gen mehrere Fälle nahe, scheinen sich derartig prestigeträchtige Positionen in weit
geringerem Maß geboten zu haben. Männliche Arbeitskräfte aus dem Ausland
konnten sich offenbar die patriarchalischen Strukturen ländlicher Alltagswelten
in höherem Maß zunutze machen als weibliche. In solchen Situationen wurden
ausländische Arbeitskräfte in erster Linie über Geschlechts- und Generationen-,
erst danach über ethnische oder nationale Zugehörigkeiten positioniert.209 Gäbe es
ein bezeichnenderes Indiz dafür als den ukrainischen Landarbeiter, der – wie der
Bauer – den Pflug führt, während die deutsche Bauerntochter die Ochsen weist ?
Ging es bisher vor allem um die Perspektiven der ausländischen Arbeitskräfte,
so rücken nun die Sichtweisen der einheimischen Bevölkerung – genauer : die Be-
wertung der Arbeitsleistungen der Ausländer/-innen
– stärker in den Mittelpunkt.
Um den Wert der Arbeit der „Fremdarbeiter“ in den Augen der Einheimischen zu
erfassen, steht in Form der behördlichen Lageberichte eine zeitlich und räumlich
dicht gesäte Massenquelle zur Verfügung. Besonderes Augenmerk gilt dabei den
erstmaligen Einsätzen polnischer Zivilarbeiter/-innen und westlicher Kriegsge-
fangener 1940, sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter/-innen 1942 so-
wie „ungarischer Juden“ 1944. Bereits die Berichte von Gendarmerieposten der
Kreise Amstetten und Zwettl von 1940 zeigen, dass die Beurteilung ausländischer
Arbeitskräfte in der Landwirtschaft erheblichen Schwankungen unterlag (Tabelle
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937