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316 „Menschenökonomie“ unter Zwang
allein deren schlechter körperlicher Zustand beklagt. In der zweiten Jahreshälfte
1942 gewann dagegen eine stärker ideologische Sichtweise Oberhand. Die angeb-
lich gesteigerte „Arbeitsunwilligkeit“ der französischen und belgischen Kriegsge-
fangenen resultiere nach Meinung der Bauern aus den „verderblichen Einflüssen“
der Arbeitskräfte aus dem Osten auf jene aus dem Westen. Damit kam das natio-
nalistische und rassistische Deutungsmuster, das bereits 1940 die Abwertung „des
Polen“ gegenüber den westlichen Kriegsgefangenen begünstigt hatte, 1942 erneut
zur Geltung. Folglich formulierte der Gendarmeriepostenführer von Seitenstetten
über die „Arbeiter russischer, ukrainischer oder polnischer Volkszugehörigkeit“ in
kaum zu überbietender Klarheit : „Dummheit, Faulheit und aufgebärdendes Be-
nehmen sind ihre angeborenen Eigenschaften.“213 Ähnliche Töne wurden bereits
in den Berichten des GP Oed vom Juni und Juli angeschlagen, wonach die „Uk-
rainer“ allesamt „faul und diebisch veranlagt“ seien.214 Gegen Ende 1942, als der
Abzug der Ausländer/-innen in industrielle und gewerbliche Wirtschaftszweige
den Arbeitskräftemangel spürbar erhöhte, gewannen wieder pragmatische Sicht-
weisen die Oberhand.
Der Zusammenhang zwischen der Linderung des Arbeitskräftemangels und der
Verstärkung nationalistisch-rassistischer Projektionen wird, wie im Sommer 1940
beim Einsatz westlicher Kriegsgefangener, am Fall Seitenstetten auch 1942 beim
Masseneinsatz sowjetischer Kriegsgefangener und „Zivilarbeiter“ deutlich. Umge-
kehrt lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Verschärfung des Arbeitskräfte-
mangels und der Abschwächung nationalistisch-rassistischer Projektionen, der be-
reits im Frühjahr 1940 den „Poleneinsatz“ kennzeichnete, am Fall Euratsfeld auch
im Frühjahr 1942 beim „Russeneinsatz“ beobachten. Offenbar gewann, je nach der
aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt, die ideologisch bedingte Ablehnung be-
stimmter Kategorien von Ausländer/-innen oder deren pragmatisch bedingte Ak-
zeptanz die Oberhand. Freilich variierten auch die beobachteten Verhaltensweisen
der ausländischen Arbeitskräfte mit den jeweiligen politischen und ökonomischen
Rahmenbedingungen ; angesichts der gesetzlichen wie alltäglichen Verschlechte-
rung der Arbeits- und Lebensbedingungen schrillten, wie etwa in Amstetten im
August 1940, wegen Missmut, Unzuverlässigkeit und Arbeitsverweigerung der
„Fremdvölkischen“ immer wieder die Alarmglocken.215
In der zweiten Jahreshälfte 1944 waren die Berichterstatter in den Behörden
mit einer neuen Kategorie ausländischer Arbeitskräfte in der Land- und Forst-
wirtschaft konfrontiert : den „ungarischen Juden“. Ein erster, versuchsweiser Ein-
satz von 20 ungarisch-jüdischen Arbeitskräften für Zuckerrübenarbeiten auf dem
Wehrmachtslehrgut Kattau im Mai 1944 zeigte, dass deren Arbeitsleistungen „un-
ter dem Durchschnitt anderer fremdvölkischer Arbeitskräfte“ liegen würden
– eine
Einschätzung, die sich auch im August für das im Kreisgebiet auf 113 Personen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937