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332 „Menschenökonomie“ unter Zwang
am Hof ein Mindestmaß an Sicherheit für sie und das Kind. Die zehn Mark, die
Helene Pawlik verblieben, waren kaum mehr als ein Taschengeld :
„Was hab ich von den zehn Mark, wenn ich nichts kaufen kann ? Ich habe nichts kau-
fen können – ja, für mich und für den Sohn hab ich beim Schuster Schuhe machen
lassen, Stiefel für mich. Zwei Jahre hab ich gespart, zwei Jahre, das weiß ich noch gut.
Zehn Jahre – ah – zwei Jahre habe ich gespart für die Schuhe für den Sepp … Jetzt
können Sie sich vorstellen, 41er, 40er, 42er, vom 41er Jahr bis zum 45er Jahr hab ich
gehabt zehn Mark.“272
Da sie über keine Bezugsscheine für Lebensmittel verfügte, konnte sie die zehn
Reichsmark, die ihr verblieben, kaum für Konsumgüter aufwenden.
Eine andere Entlohnungspraxis zeigt der Fall des Sergej Zakharovich Ragulin,
der gemeinsam mit seiner Mutter auf einem Bauernhof in Zwerndorf arbeitete.
Auf die Frage nach dem Barlohn, den er vom Bauern erhielt, antwortet er mit leiser
Ironie :
„Hat man Geld gebraucht, musste man zu ihm gehen, und er hat welches hergegeben.
Wie viel brauchst du ? Zwanzig Mark, und er hat zwanzig Mark hergegeben. Wenn
man fünfzig gebraucht hat, fünfzig. Aber im ersten Jahr haben wir ihn überhaupt
nicht um Geld gebeten. Wir haben das nicht gewusst. Was durften wir, was durften
wir nicht, was schon ? Dann, im Gespräch mit den Polen, mit den Polen, wir waren,
wir haben das wenigste bekommen, fünf Mark. Die Polen haben so ungefähr dreißig
Mark bekommen, die Franzosen haben mehr bekommen. Im Allgemeinen gab es eine
eigene Hierarchie. Ja, eine eigene Hierarchie, und, diese Mark, na, ich bin zum Bauern
gegangen, habe von ihm zum Beispiel fünf Mark bekommen, ja, eigentlich nicht ich
selber, Mama ist gegangen und hat gebeten.“273
Auch in diesem Fall wurde, ähnlich wie im Fall Helene Pawliks, ein älteres Deu-
tungs- und Handlungsmuster, die unregelmäßige, an bestimmte Termine ge-
knüpfte Auszahlung von Teilen des Jahreslohns, in einem neuen Zusammenhang
adaptiert. Das mit Gesten der Untertänigkeit verbundene Ritual der Auszahlung
von Teilbeträgen ähnelt dem „Vorschussnehmen“ inländischer Dienstboten und
-botinnen mit Jahreslohn, wie es bis in die Zwischenkriegszeit gepflogen wurde.274
Doch damit enden die Ähnlichkeiten auch schon. Nicht allein der weit unter dem
gesetzlichen Entgelt liegende Monatslohn der Frau und ihres Sohnes, sondern
auch dessen Vorenthalt markieren einen Unterschied zur Praxis der jährlichen
Entlohnung inländischer Dienstboten und -botinnen. In der untertänigen Geste
der Mutter, die den Hofbesitzer um ihren rechtmäßigen Lohn und jenen des Soh-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937