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341Gerechter
Lohn oder Ausbeutung ?
Kriegsgefangenen die Pakete als Aufbesserung der unzureichenden Verpflegung
in den Lagerkantinen.311 Die Verfügung über Lebensmittelpakete, die vielfältige
Tauschbeziehungen begünstigte, stärkte die Position der Empfänger innerhalb
der Hierarchie der Ausländer/-innen.312 Im Unterschied zu den oft heroisierten
Tauschgeschichten der Franzosen sind die Erinnerungen der in Lagern unter-
gebrachten Zivilarbeiter/-innen und Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion von
entwürdigenden Hungererfahrungen geprägt. Dmitrij Filippovich Nelen, der im
Gutsbetrieb des Erzbistums Wien im Kreis Gän sern dorf in Niederdonau unterge-
bracht war, erzählt vom Zynismus, mit dem die damaligen Aufseher die unzurei-
chende Kost kommentierten :
„Dreihundert Gramm Brot pro Tag, und trübe Brühe. Am Morgen und am Abend.
Am Mittag haben wir nichts bekommen. So war es. Zweimal haben wir gegessen. Satt
waren wir natürlich nicht, teils hungrig, weil man sagt, mit einem großen Bauch sei es
wohl schwer, sich zu bewegen, mit dem leichten Bauch könne man arbeiten, andern-
falls würde man Atembeschwerden haben.“313
Auch die Erinnerungen von in Niederdonau eingesetzten „ungarischen Juden“
sind von chronischem Hunger geprägt : „Und das Entsetzliche an dem Ganzen
war der Hunger. Der Hunger, dass wir nie satt geworden sind“,314 urteilt die im
Stift Heiligenkreuz eingesetzte Theodora Grünfeld. So bestand etwa im „Juden-
lager“ Lichtenwörth ein Frühstück üblicherweise aus 0,3 bis 0,5 Liter kaltem,
ungezuckertem Kaffee ; mittags und abends gab es eine dünne, ungesalzene und
fettlose Suppe, die manchmal nur pulverisierte Hülsenfrüchte, Bohnen und Erb-
sen enthielt.315 Die Sterberaten waren aufgrund der ungenügenden Versorgung
enorm hoch ; im „Judenlager“ Gmünd starben täglich zehn bis 15 Personen.316Im
Unterschied zur Lagerverpflegung verfügten die im Einzeleinsatz in den Betrieben
verpflegten Ausländer/-innen über größere Spielräume. Das REM legte im Ok-
tober 1942 ausdrücklich fest, dass die einzeln in der Landwirtschaft eingesetzten
zivilen Ausländer/-innen – also auch jene aus der Sowjetunion – in die „Selbst-
versorgergemeinschaft“ aufzunehmen seien ; damit waren sie auf dem Papier den
deutschen „Volksgenossen“, mit Ausnahme der Sonderzuteilungen, gleichge-
stellt.317 Die gesetzlich dekretierte „Selbstversorgergemeinschaft“ übertrug die
elementaren Bedürfnisse der im Einzeleinsatz befindlichen Arbeitskräfte aus dem
Ausland der bäuerlichen und gutsbetrieblichen Haushaltsführung. Ob die zuste-
henden Rationsmengen tatsächlich verabreicht wurden, entschieden vor allem die
Dienstgeber/-innen und jene Personen, die Zugang zu den Vorräten hatten.
Für die Ausländer/-innen, die über keine Lebensmittelkarten verfügten, be-
standen kaum legale Alternativen zur Verköstigung am Hof, wie die ehemals in
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937