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344 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Dieser Fall verdeutlicht, dass die verordnete Apartheid vielfach im Widerspruch zu
den landwirtschaftlichen Erfordernissen, vor allem jenen der bäuerlichen Familien-
wirtschaft, stand : Die Tischgemeinschaft diente nicht nur der körperlichen Kräfti-
gung der Betriebs- und Haushaltsangehörigen, sondern auch der Bekräftigung der
zwischen diesen bestehenden Machtbeziehungen : „Am Tisch des Patrons zu essen
und unter seinem Dach zu schlafen schuf die größte Schuldabhängigkeit.“327 Dass
aus der Perspektive der Ausländer/-innen die Hochschätzung der Dienstgeber/-
innen – und damit auch die Arbeitsmotivation – vorrangig auf der Erfahrung
des gemeinsamen, ausreichenden Essens fußte, verdeutlicht auch die ehemalige
„Ostarbeiterin“ Valentina Illarionovna Perepelica : „Ich war bei dem Bauern, dort
bin ich nicht schlecht behandelt worden, was sie selbst gegessen haben, haben wir
auch.“328 Dass die „Tischgemeinschaft“ nicht immer mit ausreichendem Essen ein-
herging, zeigt der Fall des „Ostarbeiters“ Sergej Zakharovich Ragulin, der die Zeit
seiner Zwangsarbeit nach den wechselnden Köchinnen gliedert :
„Und dabei haben sie uns nicht von Abfällen genährt, sondern normal. Vor unserer
Ankunft haben uns eben auch [die anderen am Hof Beschäftigten] erzählt, dass sie in
der Küche gemeinsam mit der Wirtin mit dem Hausherrn und sie saßen zusammen
an einem Tisch, aßen ein und dasselbe, so war’s.“329
Die als Köchin eingeteilte Schwester des Bauern verpflegte die „Ostarbeiter“ aus-
gesprochen reichlich, weil sie so die Angst um ihren an der Ostfront im Einsatz
stehenden Mann zu bewältigen suchte. Die Frau des Bauern, die nach einiger Zeit
die Verantwortung für die Küche übernahm, versorgte die „Ostarbeiter“ nicht halb
so gut. Dieser Fall zeigt, in welchem Maß die Verpflegung von der Willkür der
Dienstgeber/-innen abhing – im positiven wie im negativen Sinn. Der Einschluss
in die nivellierte Tischgemeinschaft konnte auch Hand in Hand mit der Erfah-
rung des Ausschlusses aus der hierarchischen Betriebs- und Hausgemeinschaft
gehen. Ausländer/-innen, vor allem unverheiratete Mütter, waren der Willkür ih-
rer Vorgesetzten viel umfassender ausgesetzt als inländische Arbeitskräfte, die im
Behördenapparat und in der dörflichen Öffentlichkeit ein höheres Maß an Un-
terstützung fanden.330 In der Debatte um die Tischgemeinschaft manifestiert sich
der Widerspruch zwischen dem arbeitsökonomisch motivierten Einschluss und
dem rassenideologisch motivierten Ausschluss der Zwangsarbeiter/-innen auf dem
Land in aller Klarheit.
Nicht allein die Essensmenge und das Personennetzwerk, in das der und die
Einzelne eingebunden waren, bestimmten den Ernährungsalltag. In den Erzäh-
lungen ehemals im Einzeleinsatz stehender Zwangsarbeiter/-innen kommen viel-
fach auch Fremdheits- oder Vertrautheitsgefühle in Verbindung mit dem Essen zur
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937