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345Gerechter
Lohn oder Ausbeutung ?
Sprache.331 Psychische und physische Aspekte der Ernährung sind untrennbar mit-
einander gekoppelt : Gefühle des Unbehagens mit dem fremden Geschmack, die
mit identitäts- und differenzstiftenden Vorstellungen verbunden waren, sind cha-
rakteristisch für die weniger diskriminierten Gruppen ausländischer Arbeitskräfte
im Einzeleinsatz in der Landwirtschaft des Dritten Reiches ; diese verfügten über
eine vergleichsweise gute Grundversorgung mit Nahrungsmitteln. Für die stärker
diskriminierten Gruppen in den Lagern standen aber weitaus existenziellere Pro-
bleme des Überlebens im Vordergrund ; nur selten thematisierten diese Erzähler/-
innen daher Geschmacksfragen. Für die physische Erhaltung ausreichendes, doch
unvertrautes Essen nährte die
– bis zum „psychosozialen Tod“ reichende
– Fremd-
heitserfahrung der Neuankömmlinge. Der südfranzösische Zivilarbeiter François
Caux empfand seine durchaus nährstoffreiche Kost keineswegs als angemessen :
„Und wenn ich mit den Pferden pflügen ging, nahm ich diese Sachen, Speck und
solche Sachen, vor allem Schweinefleisch, es ist Schweinefleisch gewesen. Ich weiß
nicht, aber ich habe niemals Rindfleisch, ein Steak oder sowas, dort gegessen, sehen
Sie. Niemals. Immer Schweinefleisch. Und ein Viertel, ein Viertel Wein.“332
Schweinefleisch galt seinem an Geflügel- und Rindfleisch gewohnten kulinari-
schen Habitus als minderwertig, abstoßend, fremd. Die gehäuften Fremdheitser-
fahrungen ließen in den ersten Wochen seines „Arbeitseinsatzes“ im Reichsgebiet
beständig Selbstmordgedanken hochkommen.
Der Ernährungsalltag der ländlichen Zwangsarbeiter/-innen ist zusammen-
fassend schwierig zu bestimmen ; jedenfalls war er durch erhebliche Unterschiede
gekennzeichnet. Nach der Rekrutierung und dem oft von extremen Hungererfah-
rungen begleiteten Transport ins Reichsgebiet bildete die Zuweisung durch die
Arbeitsämter eine entscheidende Weichenstellung. Wer wie die meisten Kriegsge-
fangenen und anfangs auch die „Ostarbeiter“ einem Lager zugewiesen wurde, war
den amtlichen, nach Nationalität abgestuften Verpflegssätzen unterworfen. Vom
Rechtsstatus hing ab, ob man als international anerkannter – und somit ‚privile-
gierter‘ – Kriegsgefangener Pakete von Angehörigen empfangen und damit die
kargen Rationen aufbessern konnte, oder, etwa als Angehöriger der Sowjetarmee,
rechtlich diskriminiert war. Wer wie die meisten Zivilarbeiter/-innen auf einen
Bauernhof kam, gehörte der bäuerlichen „Selbstversorgergemeinschaft“ an. Art
und Ausmaß der Ernährung hingen vom Status im jeweiligen Personennetzwerk
ab : Verbündete des Bauern oder der Bäuerin genossen meist dieselbe Verpflegung
wie die Bauernfamilie, Vereinzelung zog häufig Mangel- und Unterversorgung
nach sich. Diese groben Unterschiede waren aufgefächert durch feine, die aus den
alltäglichen Verhandlungen vor Ort folgten. Insgesamt offenbart der Blick auf die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937