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356 „Menschenökonomie“ unter Zwang
ten, rückten – sofern keine anderen Männer einsprangen – Betriebsleiterinnen
nach. Da in der Logik der Agrarbürokratie die Leitungsfunktion männlich besetzt
war,339 wurden Frauen beim Fehlen eines Betriebsleiters fallweise in der Hofkarte
formell nicht als Betriebsleiterin registriert ; gleichwohl übten sie in solchen Fällen
meist diese Funktion informell aus. So gesehen hatten 1944 insgesamt fast dop-
pelt so viele Frauen die Leitungsfunktion inne als 1941 ; ihr Anteil schnellte von
15 bzw. 18 auf 25 bzw. 32 Prozent empor. Zweifellos wären die Prozentsätze der
Männer geringer und jene der Frauen höher, könnten wir auch die unterbäuerli-
chen Betriebe, über die keine entsprechenden Angaben vorliegen, einkalkulieren.
Doch auch im bäuerlichen Segment wird der zunehmende Anteil von Frauen in
Leitungsfunktionen deutlich. Für den eingerückten Bauern einzuspringen, zählte
mit zunehmender Kriegsdauer immer häufiger zum alltäglichen Tätigkeitsbereich
der Frau als „Schlüsselvariable“ der bäuerlichen Familienwirtschaft. Zwei Agrar-
systeme schärften ihr Profil über die mehr oder weniger starke Verweiblichung
der Leitungsfunktion : die Ackerbäuerinnen, die 1944 den größten Frauenanteil
der Betriebsleiter/-innen aufwiesen, und die Maschinenmänner, die sich im selben
Jahr noch immer als Männerdomäne behaupteten. Vor diesem Hintergrund wird
eine weitere Ungleichheit des staatlich gesteuerten „Arbeitseinsatzes“ sichtbar : die
nach Agrarsystemen und Regionen unterschiedlich starke Rekrutierung von Be-
triebsleitern zum Militärdienst, die offenbar mit Betriebsgröße und technischer
Ausstattung zusammenhing.
Wie wirkte sich die Erfahrung, dass Bäuerinnen ihren ‚Mann‘ als Betriebslei-
terin stellten, auf die Rollenbilder der Geschlechter aus ? Das ist eine im Rahmen
dieses Buches kaum zu beantwortende Frage ; denn dies würde einen Ausblick in
die Nachkriegszeit, bis nach der „Heimkehr“ der Männer aus dem Krieg, erfordern.
Eine der wenigen Fallstudien zu ländlichen Geschlechterverhältnissen in der ös-
terreichischen Nachkriegszeit liefert ein zwiespältiges Bild : Einerseits wurde die
gewohnte Geschlechterordnung nach dem „Umbruch“ 1945, etwa im Zuge der
„Heimkehrerfeiern“, rasch wiederhergestellt ; andererseits wurden starre Rollen-
bilder, etwa durch Kontakte mit Besatzungssoldaten, aufgeweicht.340 Wo sich die
Erfahrungen der Betriebsleiterinnen im Spektrum zwischen Zumutung und An-
reiz einpendelten, war wohl von Fall zu Fall unterschiedlich. Diese Erfahrungen
knüften sich vor allem an die (Nicht-)Anwesenheit sonstiger Arbeitskräfte
– nicht
nur männlicher, um Aufgaben aus dem Bereich des eingerückten Betriebsleiters zu
übernehmen, sondern auch weiblicher, um die Betriebsleiterin in ihrem engeren
Aufgabenbereich entlasten ; und diese waren, wie wir gesehen haben, nach Jahren,
Regionen und Agrarsystemen ungleich verteilt. Weitaus eindeutiger war die offi-
zielle Sicht der Geschlechterordnung : Die Übernahme der Betriebsleitung durch
Ehefrauen eingerückter Männer galt als Ausnahme von der Regel.341 Das zeigen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937