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360 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Verweiblichung des Betriebspersonals erfolgte nicht nur passiv, indem der Staat
die Männer in den Krieg sandte ; eine aktive Komponente war die Mobilisierung
weiblicher Arbeitskräfte für die Landarbeit, teils informell über bäuerliche Ver-
wandtschafts- und sonstige Netzwerke, teils formell über die amtliche Arbeitsver-
mittlung. Mithin erscheinen Frauen als „Schlüsselvariable“ nicht nur der bäuerli-
chen Familienwirtschaft, sondern auch des staatlichen „Arbeitseinsatzes“ auf dem
landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt.
Wie die Entfamilisierung hing möglicherweise auch die Verstetigung der
Fremdarbeitskräfte mit kriegsbedingten Umleitungen der Arbeitskraftströme –
genauer, dem Einsatz der Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter/-innen aus den vom
Deutschen Reich besetzten oder abhängigen Gebieten Europas – zusammen. In
den Kleinbetriebslisten und Hofkarten waren Angaben zur nationalen Herkunft
der Arbeitskräfte nicht vorgesehen ; dennoch fügten zahlreiche Erhebungsorgane
in den Hofkarten den Zahlenangaben der ständigen Arbeitskräfte Zusätze wie K
für Kriegsgefangene, P für polnische Arbeitskräfte oder O für „Ostarbeiter“ hinzu.
Freilich können wir nicht davon ausgehen, dass diese Zusätze die auf den Höfen
ständig eingesetzten Ausländer/-innen vollständig bezeichnen ; aber als Annähe-
rung an den „Ausländereinsatz“ vor Ort – die nichtständigen Arbeitskräfte aller-
dings ausgeschlossen – scheinen sie allemal brauchbar. Unter den Gemeinden, für
die diese Angaben verfügbar sind, befinden sich Auersthal, Heidenreichstein und
St. Leonhard am Forst. Die insgesamt 444 Höfe mit Angaben über ausländische
Arbeitskräfte in den drei Gemeinden zeigen überaus deutlich das enorme Gewicht
der Zwangsarbeit für die Versorgung bäuerlicher Betriebe mit Gesinde (Tabelle
4.19) : 1942 verteilte sich der Zuwachs an ständigen familienfremden Arbeitskräf-
ten gegenüber dem Vorjahr bereits je zur Hälfte auf In- und Ausländer/-innen ; 1943
übertraf die Zunahme ausländischer Arbeitskräfte die Abnahme der inländischen
um fast das Doppelte ; und noch 1944, als im Zuge des militärischen Rückzugs der
Deutschen Wehrmacht an allen Fronten die Rekrutierung der Zwangsarbeiter/-
innen ins Stocken geriet, wog der Zugang an zusätzlichen Kriegsgefangenen und
Zivilarbeitskräften aus verschiedenen Teilen Europas den Abgang deutscher Ge-
sindearbeitskräfte nahezu auf. Ein ähnliches Bild wie für die Gesamtheit bietet
sich nach Agrarsystemen und Gemeinden : Steigende Gesindezahlen – etwa der
Zuckerrübenbauern 1943 – beruhten auf massiven Zuweisungen ausländischer Ar-
beitskräfte ; fallende Gesindezahlen
– etwa in Heidenreichstein 1944
– signalisier-
ten Abziehungen größeren Ausmaßes. Der bereits festgestellte Ersatz nichtständi-
ger durch ständige Arbeitskräfte entpuppt sich nun über weite Strecken als Ersatz
Deutscher durch Ausländer/-innen. Diese Umschichtung begann vergleichsweise
früh in Heidenreichstein, wo bereits 1941 deutsche, vermutlich großteils zum
Militär eingezogene Inländer/-innen durch Ausländer/-innen ersetzt wurden. In
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937