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386 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
von Verwandten und Nachbarn, Wohn- und Wirtschaftsgebäude aufzubauen. Im
Herbst 1937 konnten Mensch und Tier wieder in das Anwesen einziehen ; doch
die Schulden drückten schwer. Bald kam aber eine Lösung des Schuldenproblems
in Sicht, so einer der Söhne Jahrzehnte danach : „Als dann gut ein Jahr später die
Entschuldung wirkte, war das ‚ein Segen‘, wie der Vater noch Jahre später sagte.“44
Die Entschuldungs- und Aufbauaktion, die das NS-Regime bald nach dem „An-
schluss“ 1938 einleitete, deutete der Oberhofstatt-Bauer in quasi-religiöser Weise
als Erlösung von der drückenden Schuldenlast, als „Segen“. Vom Erfahrungsraum
des vergangenen, bis in die damalige Gegenwart physisch und psychisch bedrü-
ckenden Brandunglücks begann sich der Erwartungshorizont einer hoffnungsvol-
len Zukunft abzuheben.
Was im heutigen Familiengedächtnis als „Segen“ firmiert, bedurfte in der da-
maligen Notlage der Entscheidung, einen Antrag auf Durchführung des Entschul-
dungs- und Aufbauverfahrens einzubringen ; und der Oberhofstatt-Bauer war einer
der Ersten seiner Gemeinde, der sich dazu entschloss. Gemäß der Entschuldungs-
verordnung vom 5. Mai 1938 konnten „entschuldungsbedürftige“, „-fähige“ und
„-würdige“ Besitzer/-innen land- und forstwirtschaftlicher sowie gärtnerischer Be-
triebe bis zum 31. Dezember 1938 einen Entschuldungsantrag, gegebenenfalls in
Kombination mit einem Aufbauantrag, einbringen.45 Bis zum Abschluss des Ver-
fahrens genossen die Antragsteller/-innen einen Vollstreckungsschutz ihrer Lie-
genschaften.46 Sie mussten in einem vierseitigen Formular genaue Angaben über
Betriebs- und Haushaltsmerkmale sowie Ausmaß und Art der Schulden machen.47
Die Formulare wurden üblicherweise über die Ortsbauernführer, die vielfach Stel-
lungnahmen zum Antrag hinzufügten, auf dem Amtsweg an die zuständige Land-
stelle weitergeleitet. Die Landstellen wurden in der Ostmark 1938 als Reichsbe-
hörden eigens zur Abwicklung der Entschuldungs- und Aufbauaktion geschaffen ;
die für die Reichsgaue Niederdonau und Wien zuständige Landstelle hatte ihren
Sitz in Wien.48 Ort und Zeit der Entscheidungen der Betriebsinhaber/-innen zur
Antragstellung sind aktenmäßig dokumentiert ; auf diese Weise erhalten wir Ein-
blick in einen meist verborgenen Bereich bäuerlicher Betriebs- und Haushaltsfüh-
rung : die Art und Weise der Entscheidungsfindung, welche die Weichen für die
betrieblichen Entwicklungspfade stellte.49 Derartig wegweisende Entscheidungen
stellen selten einen individuellen Willensakt dar ; sie werden meist kollektiv ver-
handelt und folgen vorbewussten Antrieben. Kurz, Entscheidungen sind relational.
An vier Fokusgemeinden aus unterschiedlichen Agrarregionen Niederdonaus –
Auersthal im nordöstlichen Flach- und Hügelland, Frankenfels in den südwest-
lichen Kalkalpen, der Kleinstadt Heidenreichstein mit ihren Umlandgemeinden
im nordwestlichen Granit- und Gneishochland und St. Leonhard am Forst im
westlichen Flach- und Hügelland entlang der Donau – lässt sich die Reichweite
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937