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392 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
nicht verbunden. Es handelte sich um zwei Höfe abseits der Norm des bäuerlichen
Milieus : einen mittelbäuerlichen Besitzer, der wegen seiner Leseleidenschaft als
Sonderling galt (Nummer 7),57 und eine ihren Ehemann dominierende Hofeigen-
tümerin (Nummer 10).58 Erst die 13 Betriebsinhaber/-innen (Nummer 3, 6, 8 usw.)
der darauf folgenden Woche setzten die ‚epidemische‘ Ausbreitung der Antragstel-
lung in der Gemeinde in Gang. Die große Zahl gleichzeitig eingebrachter Anträge
lässt darauf schließen, dass sich die Unterzeichner/-innen, aufgeweckt durch die öf-
fentlichen Ankündigungen von „Entschuldung“ und „Aufbau“, schon längere Zeit
in Wartestellung befunden hatten. In enger Verbindung untereinander – ablesbar
an den zunehmenden Schwellenwerten – entschlossen sich in den folgenden Wo-
chen weitere Betriebsinhaber/-innen zum Ausfüllen des Antragsformulars : fünf und
dann neun noch im Juli, drei, vier, drei und schließlich nochmals drei im August.
Der Ortsbauernführer (Nummer 20) unterzeichnete sein eigenes Formular Anfang
August, am Wendepunkt der Antragswelle, mit dem maximalen Schwellenwert ; das
heißt, alle seine Netzwerknachbarn hatten bereits Anträge eingebracht. Vermutlich
hatte er mit dem Antrag gezögert, um die Resonanz der Aktion in der Ortsbauern-
schaft abzuwarten ; nun sprang er auf die Antragswelle auf.
So entscheidend das Bürgschaftsnetzwerk für den Zugang zum Kreditmarkt
war, so unbedeutend war es offenbar für die Entscheidung zur Teilnahme an der
staatlichen Entschuldungs- und Aufbauaktion. Gerade Betriebsinhaber/-innen,
die mit frühen Antragsteller/-innen über einseitige oder wechselseitige Bürgschaf-
ten verbunden waren (Nummer 19, 29, 31, 32, 34, 36 und 48), trafen ihre Ent-
scheidungen überaus spät. Als weitaus wichtiger für die ‚epidemische‘ Ausbreitung
der Antragsentscheidung erwiesen sich die Nachbarschaftsbeziehungen. So etwa
entschlossen sich mit dem Oberhofstatt-Bauern (Nummer 53) in den folgenden
Wochen weitere Nachbarn, darunter ein Kreditbürge (Nummern 18, 22, 37 und
38), zur Antragstellung. Bäuerliche Nachbarschaftsbeziehungen waren überaus
bedeutsam in einer Region, in der Kleinhäusler/-innen als flexible Arbeitskraft-
reserve kaum verfügbar waren und die verstreuten Einzelgehöfte fernab der Sied-
lungen der unterbäuerlichen Bevölkerung lagen. Zwischen benachbarten Gehöften
wurden, vor allem zu den saisonalen Arbeitsspitzen, Arbeitskräfte ausgetauscht ;
individuelle Besuche und familiäre Feiern bekräftigten die Tauschbeziehungen in
ritueller Weise.59 Der Arbeitskräftetausch zwischen kooperierenden Höfen machte
Nachbarschaftsbeziehungen zum Kapillarnetz der dörflichen Kommunikation ; so
vermochten diese, gerade im arbeitsreichen Hochsommer, den Informationsfluss,
die Meinungsbildung und die Entscheidungsfindung zur Entschuldungs- und
Aufbauaktion zu kanalisieren.
Die multifunktionalen, saisonal verdichteten Nachbarschaftsbeziehungen der
bäuerlichen Haushalte begünstigten die Antragswelle im Juli und August 1938 in
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937