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400 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
Vergleichen wir die Merkmalsprofile des diffusionshemmenden und -fördern-
den Milieus, so zeigt sich eine Polarität, deren Extreme in gegensätzlicher Weise
mit dem politisch-ökonomischen Agrarsystem nationalsozialistischer Prägung zu-
sammenhingen : Die im diffusionshemmenden Milieu akzentuierten Merkmale –
weiblich, überaltert, überschuldet, unter- und kleinbäuerlich – widersprachen dem
nationalsozialistischen Leitbild des „Bauern“, das den mittel- bis großbäuerlichen
„Erbhof“ unter Führung eines männlichen Alleininhabers propagierte.66 Im Ver-
gleich dazu erscheint das diffusionsfördernde Milieu als Heimstätte der am vor-
dringlichsten „entschuldungswürdigen“ Spezies des „Landvolkes“ im Sinn des NS-
Systems
– eine Passung, die sich auch in der amtlichen Wertschätzung ausdrückte.
Zudem ging die strukturelle Nähe zwischen nationalsozialistischem Bauernideal
und bäuerlicher Alltagsrealität im diffusionsfördernden Milieu mit einem Höchst-
maß an räumlicher – und damit interpersonaler – Nähe der zugehörigen Akteure
einher : 47 der 53 Antragsteller/-innen bewirtschafteten ihre Höfe am Standort
Frankenfels. Diese mehrfache Gunstlage dürfte – zusammen mit dem zuvor erör-
terten Netzwerkeffekt
– die Diffusion der Entscheidung zur Antragstellung erheb-
lich befördert haben.
Diese (Zwischen-)Antwort führt uns zu einer weiteren Frage : Das diffusions-
fördernde und das diffusionsneutrale Milieu im Raum der Entschuldungs- und
Aufbauaktion bildeten, strukturell gesehen, keine konträren Welten ; das zeigt etwa
das in beiden Fällen mittelbäuerliche Gepräge, das sich auch in der günstigen amt-
lichen Beurteilung ausdrückt. Warum kam die Passung mit dem nationalsozialis-
tischen Agrarprojekt in der Praxis im ersteren Fall dermaßen stark, im letzteren
Fall kaum zur Wirkung ? Einen Teil der Antwort auf diese Frage hat der Effekt
des Nachbarschaftsnetzwerkes am Standort Frankenfels geliefert ; den anderen Teil
wird ein veränderter Blickwinkel – jener auf die massenmediale Kommunikation
zwischen NS-System und bäuerlichen Alltagswelten im Diskurs der nationalsozi-
alistischen Agrarpresse – eröffnen.
Eine Arena der Herstellung von Identitäts- und Differenzbeziehungen ist der
Interdiskurs67 als Schnittmenge von Spezial- und Alltagsdiskursen, wie er etwa in
Massenmedien, im Schulunterricht oder in Festritualen fassbar wird. Am Jahrgang
1938 des Wochenblatts der Landesbauernschaft Donauland, des amtlichen Organs des
Reichsnährstandes, lassen sich einige Assoziationsstränge des Interdiskurses zu
„Entschuldung und Aufbau“ festmachen. Vordergründig vertraten haupt- und eh-
renamtliche Mitarbeiter der Landesbauernschaft Donauland die Sicht des Reichs-
nährstandes. Im Hintergrund dieser Äußerungen standen aber auch Sichtweisen
des „Landvolkes“, auf die sich die schreibenden Agrareliten zurück- oder voraus-
schauend bezogen. Die Forderung von Landesbauernführer Anton Reinthaller an
das Wochenblatt, zugleich „Sprachrohr“ der „Führung“ und „Mittler“ des „Land-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937