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414 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
Der Anteil der Wirtschaftspolitik des „Systems“ wurde in der „bewusste[n] Pro-
duktionsbeschränkung“ zur Milderung der Absatzkrise „durch Drosselung der
Milcherzeugung, durch Beschränkung der Schweinemast, durch Anbaukürzung
bei Zuckerrüben und Kartoffeln und durch Verbot der Neuaufrebung brachliegen-
den Weinlandes“ gesehen : „Also zwangsweise Extensivierung war die Parole, was
dann zwangsläufig den Rückgang der Einnahmen im Gefolge hatte.“121 Genau an
diesem Punkt hakten die gegen den Verfall in der „Systemzeit“ agitierenden natio-
nalsozialistischen „Bauernführer“ ein, um das „Landvolk“ für das „Wiederaufbau“-
Projekt zu mobilisieren.
Wie das Verfahren von Leopold Leitner zeigt, bestand die „Entschuldung“ nur
zu einem geringen Teil aus der Streichung von Schulden ; vorwiegend handelte es
sich um eine Umschuldung. Ziel des Verfahrens war laut Entschuldungsverordnung
„eine Regelung der Schulden, die es dem Betriebsinhaber bei ordnungsgemäßer
Wirtschaftsführung ermöglicht, nach Bestreitung der Kosten einfacher Lebens-
haltung und Berücksichtigung der laufenden öffentlichen Lasten die verbleiben-
den Schulden zu verzinsen und zu tilgen“.122 In den Erläuterungen zur Verord-
nung wurde Klartext gesprochen : „Die Entschuldung wird nicht nur zugunsten
des Betriebsinhabers durchgeführt, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit,
um den Betrieb in die Lage zu versetzen, im Rahmen der Erzeugungsschlacht sei-
nen Anteil zur Sicherstellung der Volksernährung beizutragen.“123 Die Höhe der
jährlichen Zins- und Tilgungszahlungen
– die „Leistungsfähigkeit“
– sollte durch
die Landstelle im Zuge einer Betriebsbesichtigung und nach Anhörung des Kreis-
bauernführers und weiterer Sachverständiger ermittelt werden. Um die Schulden
an die „Leistungsfähigkeit“ anpassen zu können, standen der Landstelle vor allem
vier Maßnahmen zur Verfügung : Festschreibungen, Ablösungen, die Herabset-
zung der Entschuldungsrente und Nachlässe. Durch Festschreibungen wurden
beteiligte Forderungen in unkündbare Tilgungsforderungen zu einem Zinssatz
von höchstens 4,5 Prozent umgewandelt ; beim kleinstmöglichen Tilgungssatz
von 0,5 Prozent betrug die Laufzeit 51 Jahre. Ablösungen von beteiligten For-
derungen wurden in bar mit Reichsmitteln oder mit 4-prozentigen Ablösungs-
schuldverschreibungen der Deutschen Rentenbank an die Gläubiger ausbezahlt ;
sie sollten dann zum Zug kommen, wenn einem Gläubiger die Festschreibung der
Forderungen finanziell nicht zugemutet werden konnte. Die Herabsetzung der
Entschuldungsrente, die zur Deckung der staatlichen Ablösungsmittel diente, bot
eine weitere Möglichkeit zur Senkung der Jahreslast. Üblicherweise betrug die
grundbücherlich sichergestellte Entschuldungsrente 4,5 Prozent der Ablösungs-
summe
– 3 Prozent Zinsen und 1,5 Prozent Tilgung
– und lief 37 Jahre ; sie konnte
bei entsprechender Verlängerung der Laufzeit auf 3,5 Prozent, bei Kleinbetrie-
ben und Erbhöfen sogar auf 2,5 Prozent gesenkt werden. Schließlich konnten
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937