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448 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
Unter den in Niederdonau über das Planungsstadium hinaus gelangten vier
Projekten ragt aufgrund der Quellenlage, namentlich der ausführlichen Berichte
des Aufbauleiters, jenes in Ybbsitz im Kreis Amstetten heraus ; weitere Projekte
liefen in Brand-Finsternau im Kreis Gmünd, Vorder- und Hintereben im Kreis
Lilienfeld und Hochneukirchen im Kreis Oberpullendorf.211 Das Verfahren kam
in Gang mit einem Antrag des in Ybbsitz ansässigen Betriebsbesitzers Heinrich
Brauner, zugleich Geschäftsführer des Landwirtschaftlichen Treuhandverbandes
der Landesbauernschaft Donauland, um „Errichtung einer Beispielsbauernschaft“
in seinem Wohnort : Es bestehe ein „gesundes, aufstrebendes, aber armes Berg-
bauerntum“ mit „gesunde[m] Genossenschaftswesen“ ; die Bergbauernverhältnisse
seien „geradezu klassisch“ : Einzelhofsiedlung, starke Hanglage, Seehöhe von 400
bis 900 Meter ; die Aktion könne ein „Gegengewicht gegen die die heute noch
immer klerikale Gegenpropaganda“ schaffen ; im Unterschied zum Vorzeigepro-
jekt Pichl-Obersdorf solle in Ybbsitz das „Motto der sparsamsten Verwendung
öffentlicher Mittel“ gelten ; es herrsche ein „ungeheurer Aufbauwille“ unter der
Bauernschaft, die sich durch eine „glückliche Mischung zwischen bäuerlichem
Persönlichkeitsbewusstsein und genossenschaftlichem Gemeinschaftswillen“ aus-
zeichne ; die „Stärkung und Verankerung nationalsozialistischen Denkens auch in
der Bauernschaft“ sei zu erwarten ; der Aufbau werde nicht in einem „amerikani-
schen Tempo“ vor sich gehen, sondern „in jedem Augenblick mit der bäuerlichen
Kraft seiner Gemeinde verwachsen bleiben“ ; schließlich bezeichnete er seine Per-
son als illegaler und legaler Bezirksbauernführer als Gewähr für den Erfolg.212 Mit
großer Emphase – und in Abgrenzung zum technokratischen, „amerikanischen“
Muster der Modernisierung – setzte der Lobbyist den Akzent auf das individuelle
und kollektive Aktivitätspotenzial der bäuerlichen Betriebsinhaber/-innen ; mittels
seines bürokratischen Insiderwissens klinkte er die projektierte Aufbaugemeinde
passgenau in das amtliche Anforderungsprofil ein.
Die Passung von Antrag und Anforderungsprofil sowie die leitende Position
des Antragstellers im Bereich der Landesbauernschaft Donauland förderten das
Projekt. So richtete Heinz Haushofer als Leiter der Landwirtschaftsabteilung Be-
auftragter des Reichsstatthalters für den „Gemeinschaftsaufbau“ im Februar 1941
einen derselben Argumentationslinie folgenden Projektantrag an die Berglandab-
teilung. Der dem Antrag beiliegende Aufbau- und Finanzplan suchte die vor Ort
vorherrschende Wirtschaftsweise zu intensivieren :
„Im Prinzip soll an der sich bereits angebahnt habenden Entwicklung vom Getrei-
debau weg zum Futterbau nichts geändert werden, sondern im Gegenteil, sie soll be-
schleunigt werden. Es ist daher schrittweise durch entsprechende stellenweise Drä-
nung [Entwässerung] die Grundlage zu schaffen für die Anlage von Kunstwiesen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937