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456 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
Milchwirtschaft umzustellen : „Die Rinderhaltung wird also von der noch vorherr-
schenden extensiven Weidewirtschaft mit Ochsenaufzucht auf Milchgewinnung
mit Intensiv-Weidebetrieben mit verhältnismäßig geringer Aufzucht umzustellen
sein.“226 Eine enorme Ausweitung, gemessen am Neuwert auf das Fünfeinhalbfa-
che, sollte der Maschinenbestand erfahren ; dabei ging ein beträchtlicher Teil auf
das Konto der in Gemeinschaftsbesitz befindlichen Maschinen wie Elektromoto-
ren, Drillmaschinen oder Traktoren. Durch die Mechanisierung von Handarbeiten
sollte der Arbeitskräftebesatz gleich bleiben ; mit einer Abnahme des Anteils fami-
lienfremder Arbeitskräfte im Zuge der „Landflucht“ wurde gerechnet. Die Ausstat-
tung jedes Betriebes mit Düngerstätte und Jauchegrube sowie Gärfutterbehältern
sollte das Wirtschaftsdünger- und Futteraufkommen steigern. Der Planungsent-
wurf des lokalen Agrarsystems ging unzweifelhaft in Richtung vervielfachter Ka-
pitalintensität durch den Einsatz organisch- und mechanisch-technischer Mittel
oder, anders gesagt, wachsender Boden- und Arbeitsproduktivität.
Über die Kalkulation von betrieblichen Ressourcenflüssen wie Dünger-, Fut-
ter- und Arbeitsbilanzen fügten sich die einzelnen Elemente des Agrarsystems –
Kulturarten- und Anbauverhältnis, Viehzusammensetzung, Maschinenbestand,
Arbeitskräftezahl und so fort – zu einer „organischen Ganzheit“. Daraus ergaben
sich die Mengen der notwendigen Zu- und möglichen Verkäufe sowie, über de-
ren monetäre Bewertung, die aus- und eingehenden Geldflüsse (Tabelle 5.17). In
den Geldbilanzen wird die fundamentale Änderung der Entwicklungsrichtung
des lokalen Agrarsystems zahlenmäßig fassbar. Im Vergleich der bestehenden und
geplanten Durchschnittsbetriebe zeigen die Geldflüsse auf der Ausgabenseite ver-
stärkte Zukäufe an Dünge- und Futtermitteln, Maschinen und Geräten sowie von
fossiler und elektrischer Energie an. Auf der Einnahmenseite löste der Milch- den
Viehverkauf als Haupteinnahmequelle ab. Während den 1941 bestehenden Be-
trieben – bei hoher Verschuldung – im Schnitt kein Geld übrig blieb, schnellten
die erwarteten Überschüsse in den „aufgebauten“ Betrieben auf durchschnittlich
7.200 Reichsmark – 6.000 Reichsmark in den Mittel-, 10.200 Reichsmark in
den Großbetrieben – hinauf. Das hätte im Durchschnitt einen Sprung der Bo-
denproduktivität von null auf 157 Reichsmark pro Hektar landwirtschaftlicher
Nutzfläche, der Arbeitsproduktivität von null auf 978 Reichsmark pro AKE er-
geben. Durch die engere Verflechtung der Betriebe mit vor- und nachgelagerten
Märkten hätte das lokale Agrarsystem erheblich an Autonomie eingebüßt. Die
Reproduktion der zur Produktion benötigten Ressourcen, vor allem des Sach-
und Geldkapitals, wäre vermehrt von der politisch-ökonomischen Umwelt – der
mechanischen und chemischen Industrie sowie den Kreditmärkten – her erfolgt.
Diese Verflechtung liefe tendenziell auf die Aufhebung der Systemgrenze zu die-
ser Umwelt und, in weiterer Folge, auf die Eingliederung als lokales Subsystem
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937