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464 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
handelte es sich um ein tragendes Element des technisch aufgerüsteten „Hoforga-
nismus“. Der Plan visualisiert ein architektonisches Dispositiv,235 das die betrieb-
lichen und häuslichen Alltagsroutinen der darin Arbeitenden und Lebenden in
fachmännisch geordnete Bahnen zu lenken suchte.
In welchem Verhältnis stand die planerische Vision zur realen Umsetzung des
„Gemeinschaftsaufbaus“ ? Das ist freilich die am schwierigsten zu beantwortende
Frage. Immerhin verfügen wir über mehrere gedruckte und archivalische Äuße-
rungen Heinrich Brauners, des eifrigen Lobbyisten des „Gemeinschaftsaufbaus“
in Ybbsitz. Im Mai 1941, während der Planungsphase, meldete Brauner in der in
Fachkreisen angesehenen Wiener Landwirtschaftlichen Zeitung mit einem Beitrag
über Psychologische Richtlinien im Gemeinschaftsaufbau des Berglandes seinen An-
spruch auf Führungskompetenz an. Er sah die bäuerliche Psyche durch ein Gleich-
gewicht individualistischer und kollektivistischer Züge gekennzeichnet ; diese An-
lage sei zu stärken, um der Industrialisierung und Verstädterung ein auf dem Land
verwurzeltes „Bauerntum“ entgegenzusetzen :
„Mit anderen Worten, wenn es gerade dem Bergländer, der noch ein ursprüngliches
Freiheits- und Persönlichkeitsbewußtsein ebenso wie eine noch nicht angekränkelte
bäuerliche Hof- und Dorfgemeinschaft besitzt, nicht gelingt, sich gegen die derzeit
in höchster Blüte stehende Gemeinschaftsform der Stadt zu behaupten und ihr eine
neue gleichwertige Form – trotz der Belastung durch Krieg, Landflucht und Produk-
tionssteigerung
– entgegen zu setzen, würde eine strategische agrarpolitische Position
verloren gehen, mit den weittragenden Folgen hieraus.“236
Es schien dem Autor um nichts weniger als den Untergang des (Abend-)Landes
in einer industrialisierten und urbanisierten Gesellschaft zu gehen ; dabei wurde
keine offensive „Reagrarisierung“, sondern nur mehr defensiv die Koexistenz von
ländlicher und städtischer „Gemeinschaftsform“ angepeilt. Als Mittel zur Er-
reichung dieses Zieles sah er den „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“. Dieses
Mittel – der Autor sprach, entsprechend der pathologisierenden Metaphorik des
Bergbauern-Syndroms, von einer „Methode“
– müsse an die Doppelnatur der bäu-
erlichen Psyche anknüpfen : „Das Demoralisierende jeder Beihilfe mußte daher
ebensogut vermieden werden, wie es unbedingt notwendig war und ist, dem an
Betriebsmitteln völlig entblößten Bergbauer alle Mittel an die Hand zu geben, um
die Modernisierung seines Betriebes und damit seines Lebens zu vollziehen.“237
Erst die Kombination aus genossenschaftlicher Zusammenarbeit und staatlicher
Hilfe garantiere die Erreichung dieses Zieles. Die Genossenschaft, die Brauner
im Auge hatte, war jedoch keine egalitäre, sondern eine hierarchische ; sie bedurfte
der „Menschenführung“ durch bäuerliche und staatliche Kräfte : „die bäuerliche In-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937