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471„Aufrüstung“
in den Bergen
ren Maßnahme. Der an den Universitäten Graz und Wien lehrende und in „ras-
senkundlichen“ Vereinigungen engagierte Kinderarzt Franz Hamburger259 führte
in Zusammenarbeit mit dem Ybbsitzer Gemeindearzt 1941 eine groß angelegte
Gesundheitsuntersuchung durch als Grundlage einer „biologischen Bestanderhe-
bung“ der Gemeindebevölkerung.260 Bereits für die Bestandserhebung der Lan-
desbauernschaft Donauland habe er die Bewohner/-innen „als rassisch gut, zwar
nicht sehr kräftig, eher etwas unterdurchschnittlich groß, aber als gesunden, fri-
schen Menschenschlag“261 bezeichnet. Was die bäuerliche Schamgrenze offen-
bar überschritt, war die Untersuchung und die damit verbundenen Fragen nach
vergangenen Krankheiten durch vier Medizinstudentinnen ; dies „fand bei den
Bauern wenig Verständnis und verursachte zum Teil größere Widerstände“, wie
Haushofer berichtete.262 Die katholisch-konservative „Gegenpropaganda“ gegen
den „Gemeinschaftsaufbau“ wie die „größere[n] Widerstände“ gegen die „biologi-
sche Bestandserhebung“ markierten die kulturellen Grenzen der Akzeptanz, die in
Verbindung mit den sozialen Grenzen der Adäquatheit und den wirtschaftlichen
Grenzen der Effizienz die Durchschlagskraft des „Gemeinschaftsaufbaus“ in der
ländlichen Gesellschaft – und damit die Kolonialisierung der bäuerlichen Alltags-
welt durch das NS-System – hemmten.
Die bezifferbaren Ergebnisse des „Gemeinschaftaufbaus“ in Ybbsitz, sofern wir
diese bis Jahresende 1942 verfolgen konnten, nehmen sich gegenüber den hoch-
fliegenden Plänen äußerst bescheiden aus. Von den projektierten 14,3 Millionen
Reichsmark war nur ein Bruchteil – laut Brauners Tätigkeitsbericht für die Zeit
von Jänner bis September 1942 Aufbaumittel des Reichsstatthalters von 129.700
Reichsmark ausschließlich der agrartechnischen Maßnahmen der Agrarbezirksbe-
hörde – investiert worden.263 Dennoch würde ein Fazit, das den „Gemeinschafts-
aufbau“ als Gigantomanie einer irrationalen Planungselite abtut, zu kurz greifen.
Auch die gegenteilige Folgerung, die Aufbaumaßnahmen seien „nach 1945 eindeu-
tig ein Vorteil für die betroffenen Gemeinden“ gewesen, mag für einzelne Gemein-
den zutreffen, harrt für die Gesamtheit aber noch einer genaueren Überprüfung.264
Beide Bilanzen beschränken sich auf die technischen Aspekte ; darüber hinaus
zeitigte der „Gemeinschaftsaufbau“ in Ybbsitz auch institutionelle Ergebnisse.
Eine ganze Generation von Agrarfunktionären, -bürokraten und -wissenschaftern
sowie bäuerlicher Betriebsinhaber/-innen setzte sich mit einer produktivistischen
Alternative zum Status quo der Agrarentwicklung auseinander – und nicht we-
nige fühlten sich von der Vision einer kapitalintensiven, spezialisierten und kom-
merzialisierten Berglandwirtschaft bäuerlicher Prägung angesprochen. So gesehen
bildete das, was in Ybbsitz in den frühen 1940er Jahren geplant und, zum kleinen
Teil, verwirklicht wurde, die Avantgarde eines Modernisierungsprojekts, das die
Agrarentwicklung in den Berggebieten (Nieder-)Österreichs in der Nachkriegszeit
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937