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498 Das „Landvolk“ und seine Meister
kam die geforderte Steigerung der Industriepflanzenproduktion, etwa zur Herstel-
lung von Ersatzstoffen für die Textilindustrie.6 Kurz, der Forschungsdienst zielte
auf die Verschmelzung der über das Reichsgebiet verstreuten Institute und ihrer
Forscher/-innen zu einer „große[n] Arbeitsgemeinschaft“7
– einem agronomischen
Expertensystem, das dem „planvollen und zielbewußten Einsatz aller wissenschaft-
lichen Kräfte für die deutsche Ernährungswirtschaft“8 verpflichtet war.
Die land- und forstwirtschaftlichen Experten waren die intellektuelle Elite der
sich seit Ausgang des 19. Jahrhunderts formierenden agrarischen9 bzw. agrarisch-
industriellen10 Wissensgesellschaft, in der Fachwissen in Verbindung mit techno-
logischen Neuerungen als Schlüsselressource land- und forstwirtschaftlicher Pro-
duktion und Reproduktion diente. Zusammen mit land- und forstwirtschaftlichen
Interessenvertretungen, agrarischen Bildungs- und Beratungseinrichtungen und
ländlichen Massenmedien bildeten sie die „institutionelle Matrix“11 einer Wissens-
gesellschaft, die auch die ländliche Bevölkerung, vor allem Betriebsleiter/-innen
und Jugendliche, einzubinden beanspruchte. Die Einbindung der Akteure auf den
Höfen in diese imagined community war prekär und bedurfte ständiger Verhand-
lungen mit offenem Ausgang. Dabei markierte die NS-Ära den „Übergang von ei-
nem Wissenssystem, das mit dem Landwirt arbeitete, zu einem Wissenssystem für
den Landwirt [Hervorhebungen im Original]“, das diesem die „Rolle des bloßen
Exekutors betriebsfremder Anweisungen“ zuwies.12
Nach dem „Anschluss“ Österreichs verleibte sich der Forschungsdienst unter
der Führung Konrad Meyers, der mittlerweile Spitzenpositionen im Reichsfor-
schungsrat und der Deutschen Forschungsgemeinschaft erklommen hatte,13 auch
die Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Ostmark ein. Dabei ging es, mit
Sekera gesprochen, „darum, die aus der österreichischen Landwirtschaft organisch
herauswachsenden Forschungsfragen zu organisieren und zu einer Gemeinschafts-
arbeit zu formen“.14 Neben allgemeinen Problemen des Deutschen Reiches wür-
den „ostmärkische“ Sonderprobleme zur Lösung anstehen, etwa die Bodenerosion
in den alpinen Gebieten, die verbreitete Düngerinaktivität der Böden oder der
Mangel an widerstandsfähigen Getreidesorten.15 Trotz aller Euphorie über die
scheinbare „Freiheit der Wissenschaft“ klang im Artikel Sekeras aber ein wenig
Skepsis an :
„Es ist richtig, daß die großen Aufgaben der Erzeugungsschlacht und die Dring-
lichkeit ihrer Lösung für die nächste Zeit praktische Forschungsarbeit in den Vor-
dergrund stellen. Es muß jedoch festgehalten werden, daß solche Zweckforschung aus
den Reserven der nicht zeitgebundenen Grundforschung schöpfen muß und daß diese
Reserven nicht aufgebraucht werden dürfen. Also hat der Forschungsdienst auch die
Aufgabe, beide Richtungen im richtigen Kräfteverhältnis zu lenken. Auf die Dauer
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937