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542 Das „Landvolk“ und seine Meister
ausnahmslos Beispielsbetriebe sein oder ehebaldigst werden [Hervorhebung im Ori-
ginal].“193 Zudem forderte der Melker Beratungsleiter, ein eigenes Karteiblatt zur
„Durchleuchtung“ des Betriebes zu erstellen ; dabei existierte dieses bereits in Form
der Hofkarte. Die Hofkarte führte alle Informationen über die Faktorausstattung
und Produktionsleistung eines Betriebes in einem Formular zusammen ; deshalb
diente sie als Informationsgrundlage der Wirtschaftsberatung. Im Kreis Melk fand
man damit offenbar nicht das Auslangen.
Wie stellte sich der Einsatz der Hofberater in der Kreisbauernschaft Melk 1940
letztendlich dar ? Demal beantwortete diese Frage in überraschend offener Weise :
„Wenn an mich die Frage gestellt wird, wie der Einsatz der Hofberater in den einzel-
nen Ortsbauernschaften klappt, dann kann ich ehrlich folgendes sagen : In wenigen
Ortschaften sehr gut, in wenigen Ortschaften gut und in den meisten Ortschaften
wenig. Gerade das außerordentlich gute Funktionieren des Hofberatereinsatzes in
wenigen Ortschaften ist der Beweis, daß es überall klappen kann. Da derzeit nur in
wenigen Fällen ein Austausch der unfähigen Hofberater möglich ist, so müssen wir
mit dieser Arbeit wohl warten, bis Frieden ist und müssen wir Wirtschaftsberater
uns selbst dort in erster Linie einsetzen, wo wir unfähige Hofberater haben. Meine
Erfahrung mit den Hofberatern in den Ortschaften, in denen die geeigneten Männer
Hofberater sind, sind so gute und erfolgversprechend, daß dem Wesen der Hofbera-
ter von allen Wirtschaftsberatungsstellen größte Aufmerksamkeit gewidmet werden
muß. Wir müssen heute in erster Linie den notwendigen und unnotwendigen Amts-
schimmel zu reiten und leider vielfach unproduktive Arbeit leisten, der Hofberater
muß aus diesem Grund unsere eigentliche Arbeit übernehmen.194
Freilich können die Verhältnisse im Kreis Melk 1940 nicht auf alle anderen Re-
gionen und Jahre übertragen werden ; doch sie offenbaren Widersprüche im ag-
ronomischen Expertensystem, die zweifellos auch in anderen Kontexten spürbar
wurden. Der Apparat der Wirtschaftsberatungsstelle unter Kriegsbedingungen
entpuppt sich als eine ineffiziente Institution, deren Existenz nicht auf Markt-,
sondern auf Herrschaftsmechanismen beruhte. Die staatliche Regulation des
Agrarsektors erforderte derart hohe Transaktionskosten195 an Verwaltungsauf-
wand, dass die eigentliche Wirtschaftsberatung zu kurz kam. Die Lösung dieses
Strukturproblems bestand in der Praxis, bäuerliche Hofberater einzusetzen – und
darüber die aus mangelndem Vertrauen gegenüber den Wirtschaftsberatern er-
wachsenden Transaktionskosten zu senken. Auf diese Weise sollte die Fremddis-
ziplinierung durch das Landwirtschaftsschulwesen um die Selbstdisziplinierung
der bäuerlichen Bevölkerung ergänzt werden. Da jedoch ein Mangel an geeigneten
Hofberatern herrschte, wurde die endgültige Problemlösung in bewährter Manier
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937