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545Die
imaginierte „Volksgemeinschaft“
Kreuze aus den Schulklassen, das Verbot der Fronleichnamsprozession, Sanktio-
nen gegen aufmüpfige Pfarrer – kein Thema. Der bäuerliche Briefschreiber hatte
weniger das regionale, sich gegen den staatlichen Zugriff abschließende Milieu,
sondern vielmehr den Nationalstaat als umverteilende „Wohlfahrtsdiktatur“210 im
Sinn. In dieser Hinsicht erschien der Nationalsozialismus weniger als milieufrem-
der Gegner, sondern vielmehr als staatlich legitimierter Fürsprecher
– als im „Füh-
rer“ verkörperter Über-Patron, der seinen Klienten, vor allem den Schwächeren
und Ärmeren, in ‚gerechter‘ Weise Lasten auferlegte und Leistungen zukommen
ließ, mithin deren Wohlfahrt verantwortete. „Der Hitler hat uns zu Menschen
gemacht“, bringt ein damals in Frankenfels bediensteter Landarbeiter die erfah-
rene Aufwertung – höherer Lohn, bessere Unterkunft, gehobenes Ansehen – und
die damit verbundene Aufstiegserwartung nachträglich zum Ausdruck.211 Diese
Heils erwartung war mehr als lediglich „schöner Schein“ ;212 sie war sinnlich er-
fahrbar in der Einführung der reichsdeutschen Sozialversicherung 1939213 sowie
in sozialpolitischen Leistungen wie Ehestands- und Kinderdarlehen, Kinder- und
Ausbildungsbeihilfen und Einrichtungszuschüssen.214 Wo Heilserwartung und
alltägliche, diskursiv gerahmte Erfahrung auseinanderklafften, forderten die Kli-
enten ihren Anspruch auf Gerechtigkeit mitunter ein – unter anderem mittels
Bitt- und Beschwerdebriefen an die Patrone des Staatsapparats. Leitner unterlegte
seinen Briefen offenbar ein derartiges Patron-Klient-Verhältnis ; sein Schreibimpe-
tus speiste sich allem Anschein nach aus dem moralökonomischen Gerechtigkeits-
anspruch, den er gegenüber der wohlfahrtsstaatlichen Diktatur und deren „Führer“
erhob. Dass der Einschluss in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ eng
mit dem Ausschluss der als „gemeinschaftsfremd“ definierten Gruppen der Gesell-
schaft zusammenhing, thematisierten die Briefe indes nur am Rande, etwa in den
geforderten Sanktionen gegen Alkoholiker.215
Diese vorläufige Antwort, die auf der Erstlektüre der Briefe basiert, führt zu
einer weiteren Frage : In welchen symbolischen, sozialen und materiellen Zusam-
menhängen gewann die Vorstellung der wohlfahrtsdiktatorisch regulierten „Volks-
gemeinschaft“ als Schreibimpetus Kontur ? Lesen wir daher die Briefe Leitners ein
zweites Mal, diesmal genauer. Das Schreiben an den „Führer“ eröffnete zu Jahres-
beginn 1941 die Briefserie :
„An unseren Führer ! Frankenfels, am 20. Februar 1941
Leitner Leopold, Fischbachmühlrotte 13, Post Frankenfels, Kreis St. Pölten, bittet
um Abhilfe der folgenden Mißstände. In der Ostmark kann man bemerken, daß noch
immer Fälle sind, daß trotz den hohen Weinpreis, trotz der Geldknappheit (Geld-
mangel) sich noch immer manche übermäßig betrinken. Könnte in diesen Fällen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937