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546 Das „Landvolk“ und seine Meister
nicht in der Ostmark auch so vorgegangen werden wie im Altreich, daß jene Gast-
wirte, strenge bestraft werden, welche Gäste im stark betrunkenen Zustande, noch
zum Weitertrinken veranlassen. In der Ostmark ist’s gewöhnlich so, daß Trinker keine
Kinderbeihilfe, keine Winterhilfe, überhaupt wenn sie hilfsbedürftig sind, nichts er-
halten. Oberflächlich beurteilt richtig im Grunde aber falsch. Ist der Betroffene ledig
und hat für niemand zu sorgen, ist’s richtig ; aber wenn ein Trinker, eine Familie zu
versorgen hat, so wirkt sich die Zwangsmaßnahme, im auß allen Hilfsqwellen auß-
zuschließen, an ungünstigsten an Frau und Kindern auß. Laut Zeitungsbericht ist
die Kinderbeihilfe herabgesetzt, von 3 Kindern an, aber unsere Ämter wissen nichts
davon, alle Bemühungen der Gemeinden, der Bürgermeister ist umsonst. Entweder
soll die Zeitung nichts schreiben, was nicht wahr ist, oder es sollen sich die ostmärki-
schen Herren auf den höheren Ämtern bequemen, daß was ihre Verpflichtungen sind
auch durchzuführen. In der Ostmark kann man beobachten, Gemeindeverwaltung
und Kreisverwaltung arbeiten sehr tüchtig, aber in den höheren Ämtern fehlts oft
weit. Wenn die höheren Ämter jenen Opfermut und jenes eiserne Pflichtbewußtsein
hätten wie die Bevölkerung, welche oft Nächte durcharbeiten müssen, Sonn- und Fei-
ertagarbeit machen müssen, so wäre gar mancher alter Mißbrauch abgestellt. Für alle
Erleichterungen unserer harten Lage bedankend und um Gewährung unseres An-
suchen bittend, schließt mit Sieg Heil ! Heil Hitler ! [Schreibfehler im Original]“216
Wir erfahren hier einen der Anlässe dafür, dass Leitner zur Schreibfeder griff :
Er kommentierte in seinem Brief Eindrücke, die er aus der Zeitungslektüre ge-
wonnen hatte. Der Briefschreiber war dafür bekannt, dass er seinen Kopf stän-
dig in Zeitungen oder Bücher steckte217 – und darüber seine Wirtschaftsführung
vernachlässigte. Ein derart lesehungriger, pflichtvergessener Hofbesitzer wurde im
dörflichen Gerede schnell zum Sonderling abgestempelt ; so kursierte zum Namen
von Leitners Hof, Tatzgern, das spöttische Wort : „Tat’s gern und tuat’s do net“
– er
sei sich zwar der Notwendigkeit einer Tätigkeit bewusst, führe diese jedoch nicht
durch.218 Neben dem Wochenblatt der Landesbauernschaft Donauland zählte die vor-
mals christlichsozial ausgerichtete, nunmehr „gleichgeschaltete“ St. Pöltner Zei-
tung, eine regionale Wochenzeitung mit ausführlichem Lokalteil, zu den vor Ort
reichweitenstärksten Blättern ; vermutlich wurde sie auch auf dem Tatzgern-Hof
gelesen. Ein im August 1939 unter der Rubrik Frankenfels erschienener Artikel
sorgte in der Gemeinde wohl für einiges Gerede, weit hinaus über den Kreis jener,
die das Blatt regelmäßig lasen. Im Lokalteil zog eine Schlagzeile die Blicke auf
sich, die einen außergewöhnlichen Artikel ankündigte : I spür nix, daß besser worden
is, aber für ein Ei weiß er 10 Pfennig zu verlangen. Außergewöhnlich war, dass in
der Zeitung zum ersten Mal vor Ort geäußerter Unmut über Staat und Partei zur
Sprache kam. Ein bäuerlicher „Raunzer, auch Meckerer genannt“, habe durch die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937