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551Die
imaginierte „Volksgemeinschaft“
besser ist,‘ dann ist es ihm wahrscheinlich herrlich gegangen und tausendmal besser
als den armen hungernden und frierenden Arbeitslosen. Es würde bestimmt nicht
schaden, solche Unverbesserliche ein bißchen ins Sanatorium Dachau zu schicken,
damit sie ihr Erinnerungsvermögen wieder zurückbekommen und unterscheiden
lernen, von heute und damals, damit sie, wenn sie gefragt werden, ehrlich und offen
in der Lage sind, zu sagen was wahr ist. Und daß es besser geworden für Bauer und
Arbeiter und daß wir wiederum froh und freudig in die Zukunft blicken können,
danken wir unserem großen Führer, dem Größten aller Deutschen, unserem Hitler
[Hervorhebung im Original].“230
Das Spannungsmoment des Artikels baut sich auf zwischen der teils als „böswil-
lig“, teils als pathologisch verunglimpften „Meckerei“ des „Gebirgsbauern“ über die
ausgebliebene Besserung der bäuerlichen Einkommenslage und der tatsächlichen
Verbesserung des Lebensstandards in der nationalsozialistischen „Volksgemein-
schaft“ – kurz, zwischen falschem und richtigem Gedächtnis. Diese Leitdifferenz
wird nicht nur durch abstrakte Kampfbegriffe markiert – jüdisch-christlichsoziale
Dekadenz gegenüber „wahrem Christentum“ –, sondern auch durch Ereignisse
aus dem alltäglichen Erfahrungsbereich der Leser/-innen in den 1930er Jahren
konkretisiert : einerseits den Verfall der bergbäuerlichen Erzeugerpreise, ande-
rerseits die Scharen bettelnder Arbeitsloser. Die Mixtur abstrakter und konkre-
ter Momente vermochte die Glaubwürdigkeit des Artikels zu steigern. So ließ
sich auch die Klage über den gestiegenen Lohnaufwand, der die bergbäuerlichen
Einkommen tatsächlich stark belastete, mit dem Anspruch der Dienstboten und
Handwerker auf ‚gerechte‘ Einkommen entkräften. Der einkommensmäßig besser
gestellte Bauer und der mit „Arbeit und Brot“ versorgte Arbeiter halten auf selber
Augenhöhe – als „Volksgenossen“ – Einzug in das Zentrum der nationalsozialisti-
schen Wohlfahrtsgemeinschaft. Mit dem entschärften Klassenunterschied gleicht
sich auch das Gefälle zwischen Land und Stadt aus. An den Rand dieses klas-
sen- und regionenübergreifenden Gemeinschaftsentwurfs rückt der „Meckerer“,
der als „blonder Bauer“ zwar die „rassischen“ Voraussetzungen zum Einschluss er-
füllt, aufgrund seiner „Böswilligkeit“ jedoch einen befristeten Ausschluss durch die
Haft im Konzentrationslager Dachau231 – pathologisiert als Genesung vom Ge-
dächtnisverlust im „Sanatorium“ – rechtfertigt.232 Zwischen die eingeschlossenen
„Volksgenossen“ und die ausgeschlossenen „Gemeinschaftsfremden“ schiebt sich
die Grenze der vorgestellten „Volksgemeinschaft“.233 Der „Meckerer“ erscheint als
Grenzgänger ; sein befristeter Ausschluss schließt seinen Wiedereinschluss nicht
aus. Alles in allem entwirft der Artikel vom krisenhaften Erfahrungsraum ausge-
hend einen Erwartungshorizont, dessen Fluchtpunkt die imagined community der
nationalsozialistischen Wohlfahrtsdiktatur des „Führers“ bildet.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937