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552 Das „Landvolk“ und seine Meister
Ob Leitner den Artikel über den „Meckerer“ vom Sommer 1939 im Sinn hatte,
als er im Winter 1940/41 zur Schreibfeder griff, wissen wir nicht. Jedenfalls nahm
sein Brief an den „Führer“ Bezug auf den (Inter-)Diskurs um die nationalsozia-
listische „Volksgemeinschaft“. Zugleich bezog er sich auch auf persönliche Erfah-
rungen und Erwartungen, die wir nicht direkt vom Papier ablesen, sondern nur
indirekt erschließen können.234 Zudem schob sich zwischen die Subjektpositionen
des (Inter-)Diskurses und die subjektive Positionierung des Schreibenden die me-
diale Eigenlogik des Bitt- und Beschwerdebriefes als Filter. Das Schreiben in den
vom Arbeitsdruck entlasteten Wintermonaten ließ Form und Inhalt des Briefes
sorgfältiger abwägen. Dennoch eröffnete der Akt des Schreibens ein Spiel mit of-
fenem Ausgang, dessen Züge nicht nur dem Bewusstsein, sondern auch un- oder
vorbewussten Antrieben folgten. Doch all dies äußert sich in den Briefen nur in
verschlüsselter Weise ; versuchen wir, die Schriftzeichen ein Stück weit zu ent-
schlüsseln.
Der Briefverfasser trat gegenüber dem „Führer“ in der Doppelrolle als Bittstel-
ler und Beschwerdeführer auf : Er bat um die Abstellung von Missständen. Da-
bei hangelte er sich von einem Missstand zum nächsten : vom Alkoholismus über
den daraus folgenden Entzug staatlicher Sozialleistungen, die ungerechtfertigte
Bestrafung der betroffenen Familien und die Misswirtschaft in der Provinzver-
waltung bis hin zur Arbeitsüberlastung der Bevölkerung. Bemerkenswerterweise
vertrat der Verfasser keinen partikularen
– persönlichen, lokalen oder regionalen
–,
sondern einen universellen Standpunkt, jenen des Staatsganzen. Darin äußert sich
eine gewisse Vertrautheit mit Debatten, wie sie in der „gleichgeschalteten“ Tages-
und Wochenpresse geführt wurden.235 Über Druckschriften, vermutlich auch über
den Rundfunk,236 hatte der Bergbauer auf seinem abgelegenen Hof im hinters-
ten Winkel eines Gebirgstales seine mentale Landkarte237 auf das Territorium des
Deutschen Reiches erweitert. Im Brief an den „Führer“ trat er nicht als Einzelper-
son oder Angehöriger einer Interessengruppe, sondern als ‚Mann aus dem Volke‘
auf. Gemildert durch die Form der Bittschrift enthielt das Schreiben gewichtige
Beschwerden, vor allem den Korruptionsvorwurf an die „ostmärkischen Herren auf
den höheren Ämtern“. Kurz, unter dem Mantel des devoten Staatsbürgers schien
sich ein aufmüpfiger „Meckerer“ – ein gängiger Topos in der „gleichgeschalteten“
NS-Presse nach Abflauen der Anschlusseuphorie – zu verbergen. Vermutlich des-
wegen beantwortete die Reichskanzlei in Berlin den Brief nicht, sondern machte
ihn zum „Fall“ und reichte ihn an die Polizeiverwaltung weiter.
Um die Position, die Leitner im Diskurs um die „Volksgemeinschaft“ einnahm,
genauer zu bestimmen, führt der zweite, an den Landrat in St. Pölten adressierte
Brief weiter :
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937