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594 Ordnung und Chaos des Marktes
Delikte als erschwerend wurde Binder zu fünf Monaten Gefängnis, 50 Reichsmark
Geldbuße und 60 Reichsmark Wertersatz verurteilt.74
Soweit die juristische Sicht der Dinge. Um diesen Fall in sein gesellschaftliches
Kräftefeld einzubetten, wenden wir uns dem Geschehen vor, während und nach
dem Gerichtsverfahren zu. Binder bewirtschaftete den Hof zusammen mit seiner
kränklichen Ehefrau und einem altersschwachen Knecht. Daraus ergab sich eine
doppelte Zwangslage : Einerseits wurden die dem Haushalt zustehenden Haus-
schlachtungsgenehmigungen an der Zahl der ständigen – aber krankheits- und
altersbedingt nicht voll einsatzfähigen – Arbeitskräfte bemessen. Andererseits
musste der Betriebsleiter die fehlende Arbeitskraft durch Taglöhner/-innen – die
aber für die Bemessung des offiziellen Fleischkontingents nicht in vollem Umfang
zählten – abdecken. Teils wurde die zusätzliche Arbeitskraft durch Kriegsgefan-
gene, teils durch ein Ehepaar, das ein Nebengebäude des Hofes als Wohnung ge-
mietet hatte, und andere Taglöhner/-innen aus der näheren Umgebung mobilisiert.
Um die Haushaltsangehörigen sowie die tageweise beschäftigten Hilfskräfte in
angemessener Weise mit Fleisch zu verköstigen, reichten die Erträge der geneh-
migten Hausschlachtungen nicht aus. Auch das Geld war knapp, lief doch wegen
der 21.000 Reichsmark Schulden, die das Bauernpaar großteils vom Vorbesitzer
übernommen hatte, ein Entschuldungsverfahren.75 Daher wurde zumindest ein
Schwein für den Eigenbedarf „schwarz“ geschlachtet – was den Arbeitskräften auf
dem Hof freilich nicht verborgen blieb. Damit die im bäuerlichen Milieu durch-
wegs übliche „Schwarzschlachtung“ den Behörden zur Kenntnis gelangte, bedurfte
es jedoch eines unüblichen Ereignisses : einer Anzeige. Zwischen dem Untermie-
ter- und dem Hofbesitzerpaar hatten sich seit geraumer Zeit Spannungen ergeben :
Die Untermieterin erledigte die Rübenarbeit nicht zur Zufriedenheit der Bau-
ersleute ; der Hofbesitzer forderte von den Eingemieteten, eine bislang genutzte
Abstellkammer zu räumen. Irgendwann eskalierte der Streit : Binder vernagelte
die Kammertür der Mietwohnung ; die Betroffenen drohten ihm mit Anspielung
auf die verbotenen Schlachtungen : „Du sei ruhig, sonst kommen die Schwarzen
daran.“76 Daraufhin erstattete der Untermieter beim Bürgermeister Anzeige wegen
dreimaliger „Schwarzschlachtung“ durch Binder unter Beihilfe eines Kriegsgefan-
genenaufsehers und eines benachbarten Hofinhabers sowie „Verhamsterung“ eines
Großteils des Fleisches unter Beihilfe des Knechtes.77
Mit dieser Anzeige, die sofort an die Staatsanwaltschaft beim Sondergericht
weitergeleitet wurde, kam das Strafverfahren in Gang. Nun musste der Verdäch-
tige und, in weiterer Folge, Angeklagte eine Verteidigungsstrategie zimmern. Un-
ter Beistand eines Rechtsanwalts wurde eine Reihe von Entlastungsargumenten
und -zeugen aufgeboten : Bei zwei der drei angeblichen „Schwarzschlachtungen“
handle es sich um genehmigte Hausschlachtungen, was die eigene Ehefrau, die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937