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596 Ordnung und Chaos des Marktes
an die Diskurse, die behördliche Entscheidungsvorgänge anleiteten. Nachdem die
Gemeindeelite – Bürgermeister, Ortsbauernführer und Gendarmeriepostenkom-
mandant – die Angaben bestätigt und übergeordnete Behörden, die Kreisbauern-
schaft St. Pölten und die NSDAP-Gauleitung Niederdonau, das Gnadengesuch
befürwortet hatten, erhielt Binder nach dreieinhalb Monaten Gefängnis, davon
großteils Untersuchungshaft, eine dreijährige Bewährungsfrist zugestanden.80
Binders Fall offenbart eine für diese Gruppe charakteristische Facette ländli-
chen Wirtschaftens : die Kluft zwischen dem Fleischbedarf der Haushalts- und
Betriebsangehörigen und dem amtlich zugestandenen Fleischkontingent. Diese
Diskrepanz fand vielfach nicht nur als strafmilderndes Tatmotiv auf der gericht-
lichen Vorderbühne Anerkennung, sondern motivierte auch die Tat selbst auf der
alltäglichen Hinterbühne. Sie bestand vor allem in Agrarsystemen, die aufgrund
großer Ackerland- und Weingartenanteile in hohem Maß der Taglohnarbeit be-
durften und deren Grundparzellen im Gemenge lagen. Das war der Fall in einem
23-Hektar-Betrieb in Zagging, Kreis St. Pölten, wo im Schlachtjahr 1940/41 mit
fünf Hausschlachtungen weniger als die Hälfte der zuvor üblichen Menge geneh-
migt worden war :
„Die Angeklagten verantworten sich damit, dass sie mit den vorgeschriebenen Fleisch-
mengen nicht auskommen können und dass sie ihre ständigen Hilfskräfte verlieren
und keine Tagwerker bekommen, wenn sie nicht mehr Fleisch zur Verfügung haben.
Im Frieden seien jährlich 11 bis 12 Schweine gestochen worden. Der Hof brauche
deshalb mehr Fleisch, weil Weingärten und einzelne Äcker so weit vom Anwesen
entfernt sind, dass die dort Arbeitenden zu Mittag nicht nach Hause kommen können
und an den Arbeitstagen durch mitgegebenes Fleisch verpflegt werden müssen.“81
Diese Argumentation benennt die beiden Triebkräfte, die Fleischbedarf und -an-
gebot mehr und mehr auseinanderklaffen ließen : die Versorgungsansprüche saiso-
nal oder tageweise beschäftigter Arbeitskräfte und die den bäuerlichen Haushalten
behördlich genehmigten Schlachtmengen. Taglöhner/-innen waren, sofern sie über
keine landwirtschaftliche Selbstversorgungsbasis verfügten, als „Normalverbrau-
cher“ an die über Lebensmittelkarten zugeteilten Mengen gebunden.82 Eine Mög-
lichkeit, die knappen Rationen aufzubessern, bestand im Tausch ihrer Arbeitskraft
gegen Fleischkost ; es war gerichtsbekannt, dass sie „Arbeiten nur übernehmen,
wenn ihnen markenfrei eine gute und besonders reichliche Verpflegung gewährt
wird“.83 Mehrfach berichtet wurde auch von Kriegsgefangenen, die an Sonntagen
freiwillig auf bäuerlichen Höfen arbeiteten, um fleischreiche Verpflegung zu er-
halten.84 Betriebe, deren Haushalte über entsprechende Fleischreserven verfügten,
hatten im Ringen um die knappen Arbeitskraftressourcen die besseren Karten, so
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937