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597Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
etwa auf einem 15-Hektar-Betrieb in Wieselbruck, Kreis St. Pölten, hinsichtlich
der Saisonarbeiter/-innen : „Nach ihrem glaubwürdigen Geständnis haben die
Angeklagten diese Schwarzschlachtung vorgenommen, um dadurch etwas mehr
Fleisch für sich und ihr Personal zur Verfügung zu haben, vor allen Dingen aber
deshalb, um im Sommer den bei ihnen beschäftigten sonst schwer erhältlichen
Saisonarbeitern markenfrei Zubußen an Fleisch geben zu können.“85 Nicht nur
größere Betriebe mit hohem Bedarf an Fremdarbeitskräften, sondern auch Klein-
häusler- und Kleinbauernfamilien mit älteren oder kranken Angehörigen befan-
den sich oft in der gleichen Zwickmühle : „Sie [die Angeklagten] verantworten
sich damit, daß sie mit der ihnen zustehenden Fleischmenge das Auslangen nicht
gefunden hätten, daß sie zufolge ihres hohen Alters nicht mehr voll arbeitsfähig
und daher auf Erntearbeiter angewiesen seien und daß sie Landarbeiter nur unter
der Voraussetzung, daß sie ihnen markenfreie Fleischkost verabreichen würden,
bekommen konnten.“86 Damit verschob sich das Machtgefälle zwischen Dienst-
geber- und Bedienstetenseite ; angedrohte Arbeitsverweigerungen wegen unzu-
reichender Kost verfehlten meist ihre Wirkung nicht : „Es lässt sich ferner nicht
widerlegen
– es besteht sogar nach den bisherigen Erfahrungen des Gerichtes eine
große Wahrscheinlichkeit dafür – daß die Druscharbeiter den Angeklagten unter
einen gewissen Druck gesetzt haben, indem sie die Arbeit nach ihrer Auffassung
mangelnder Kost wegen zu verweigern drohten.“87 Der Einsatz der Amtsgewalt
gegen „Arbeitsverweigerer“ verschob zwar das Problem, war aber kaum geeignet, es
zu lösen. So legten auf einem 16-Hektar-Betrieb in Preinsbach, Kreis Amstetten,
zwei polnische Zivilarbeiter wegen Fleischmangels die Arbeit nieder. Nachdem
einer der beiden deswegen verhaftet worden war, wurde als Ersatz ein benach-
barter Kleinhäusler als Arbeitskraft angeworben. Da auch er Fleischkost forderte,
entschloss sich der Betriebsbesitzer, seiner Aussage zufolge, zur „Schwarzschlach-
tung“.88 Der moralische Anspruch auf „markenfreie“ Fleischkost kennzeichnete
offenbar Landarbeiter/-innen unterschiedlicher Nationalität und Geschlechtszu-
gehörigkeit ; er erscheint als Ausdruck der „Rationengesellschaft“,89 welche die
Unterschiede zwischen den ländlichen Besitzklassen
– den bäuerlichen „Selbstver-
sorgern“ gegenüber den unterbäuerlichen „Normalverbrauchern“ – akzentuierte.
Die Versorgungsansprüche der familienfremden Arbeitskräfte – wie auch der
zum Militär rekrutierten Familienangehörigen90 – waren ein Antrieb, der die
Entscheidung zur „Schwarzschlachtung“ begünstigte, das Regime der amtlichen
Hausschlachtungsbewilligung ein anderer. Hausschlachtungen standen „Selbstver-
sorgern“ zu, die eine gewisse Zeit hindurch Rinder, Schweine oder Schafe gefüttert
hatten ; sie waren die tragende Säule der bäuerlichen „Selbstversorgergemeinschaft“.
Hausschlachtungen wurden durch die Kartenstelle, die meist am Gemeindeamt
angesiedelt war, genehmigt und abgerechnet. Die Fleisch- und Fettmengen, die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937