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598 Ordnung und Chaos des Marktes
bäuerlichen Selbstversorgerhaushalten im Rahmen von Hausschlachtungen oder
Zukäufen zugestanden wurden, richtete sich nach der Zahl der ständig zu ver-
köstigenden Personen, einschließlich der ständigen Fremdarbeitskräfte. Die Wo-
chenration von 1.060 Gramm pro Person lag, wie die Sondergerichte immer wie-
der betonten,91 deutlich über der Schwerarbeiterration. Wenn beispielsweise eine
Hausschlachtung 100 Kilogramm Schweinefleisch ergab, musste ein bäuerlicher
Haushalt mit fünf beköstigten Personen damit 16 Wochen – berechnet aus dem
Schlachtgewicht abzüglich 15 Prozent Verarbeitungsverlust geteilt durch 5,3 Ki-
logramm Wochenration – auskommen.92 Taglöhner/-innen und Saisonarbeiter/-
innen, die am Hof verköstigt wurden, waren in die Selbstversorgerrationen jedoch
nicht eingerechnet. De jure hätten sie zu diesem Zweck ihre Fleischmarken ver-
brauchen müssen ; de facto forderten sie aber meist eine „markenfreie“ Verkös-
tigung. Daher öffnete sich für Betriebe mit häufigem Bedarf an nichtständigen
Arbeitskräften eine Lücke zwischen tatsächlich verbrauchter und amtlich zuge-
standener Fleischmenge, die etwa durch „Schwarzschlachtungen“ gefüllt werden
konnte : „Die Angeklagten haben in ihrer Einlassung angegeben, sie seien zu den
Schwarzschlachtungen gezwungen gewesen, weil sie bei dem Umfang ihres Be-
triebes Taglöhner aufnehmen mußten, die nicht auf die Selbstverbraucherquote
angerechnet werden, andererseits aber erfahrungsgemäß immer eine fleischreiche
Verpflegung ohne Abgabe ihrer Lebensmittelkarten verlangen.“93
Verschärft wurde diese Kluft durch die staatlichen Versuche, der Verknappung
des Angebots auf dem offiziellen Fleischmarkt – und der dadurch beschleunig-
ten Flucht in den „Schwarzmarkt“ – durch die Dämpfung der Nachfrage Herr
zu werden. So kürzte das REM im Juni 1941 die wöchentlich einer Person zu-
stehende Selbstversorgerrationen an Fleisch und Fett, außer Butter, von 1.060
auf 860 Gramm. Zudem wurde die Bewilligung von Frischfleischbezügen und
Hausschlachtungen für Selbstversorgerhaushalte eingeschränkt.94 Eine weitere
Kürzung – die offizielle Diktion lautete beschönigend „Änderung“ – der bäuer-
lichen Fleisch- und Fettrationen erfolgte im April 1942. Der Zeitraum, auf den
die Mengen für „landwirtschaftliche Selbstversorger“ ausgelegt waren, wurde um
fünf Wochen, von November 1942 auf Jänner 1943, verlängert.95 Im Fall eines
38-Hektar-Betriebes in Zagging, Kreis St. Pölten, ergab sich im Zusammenhang
dieser Rationskürzungen ein ernstlicher Engpass :
„Im Wirtschaftsjahr 1940/41 sei man nämlich in dieser Gegend etwas großzügig bei
Hausschlachtungen verfahren und es seien ihm damals insgesamt 7 Hausschlachtun-
gen zugebilligt worden. Obwohl das Fleisch aus diesen Schlachtungen im wesent-
lichen verbraucht worden sei, sei dann später plötzlich infolge der Verschärfung der
Lage auf dem Gebiete der Fleischversorgung nicht nur die Bewilligung der neuen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937