Seite - 601 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
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601Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
der Praxis, abweichend von der Norm, auch die Taglöhner/-innen einschloss – zu-
nehmend die amtliche Nahrungsgrundlage. Das behördliche Zurückschrauben der
legalen Hausschlachtungen war im Zusammenhang mit der Kürzung der Selbst-
versorgerrationen einer der Beweggründe der bäuerlichen Entscheidung zum
Schritt in die Illegalität, wie etwa im Fall eines Sechs-Hektar-Betriebes in Leo-
poldsdorf, Kreis Gän sern dorf :
„Der Angekl[agte] ist in vollem Umfang geständig und verantwortet sich damit, daß
ihm nur eine Hausschlachtung bewilligt worden sei, daß er mit der daraus gewonne-
nen Fleischmenge das Auslangen nicht habe finden können, und daß er das aus der
Schwarzschlachtung stammende Fleisch dringend benötigt habe, um seinen fallweise
benötigten Hilfskräften eine ausreichende Kost verabreichen zu können.“99
Paradoxerweise vergrößerte die öffentliche Bewirtschaftung von Schweinefleisch
unbeabsichtigt das Problem, zu dessen Vermeidung sie der Agrarapparat installiert
hatte : die Umleitung der Nahrungsmittelressourcen in die Kanäle der ländlichen
Schattenwirtschaft.
Die Sondergerichtsbarkeit suchte das Paradox der amtlichen Fleischbewirt-
schaftung zu entschärfen, indem sie den bäuerlichen Schwarzschlächter durchwegs
nicht als „schweren Kriegsverbrecher“ wertete ; er oder sie entspräche nicht dem
„Typ des Kriegsschiebers, den die Kriegswirtschaftsverordnung in erster Linie
treffen will“.100 Meist wurde den Angeklagten ein strafmilderndes Tatmotiv, etwa
die Versorgung der Haushalts- und Betriebsangehörigen, zuerkannt. Im Zusam-
menhang mit weiteren Strafmilderungsgründen ergab sich vielfach lediglich eine
geringe oder mittlere Gefängnisstrafe, wie etwa im Fall eines wegen „Schwarz-
schlachtung“ von zwei Schweinen angeklagten bäuerlichen Betriebsbesitzers aus
Teesdorf, Kreis Baden, im Ausmaß von vier Monaten :
„Der Angeklagte, der das aus den schwarzgeschlachteten Schweinen gewonnene
Fleisch für sich selbst und seine Angestellten, für die er zum Teil trotz bestehen-
den Anspruches Fleischkarten nicht anforderte, verwendete, der sonst seinen Ab-
lieferungspflichten als Landwirt beispielgebend nachkommt, kann füglich nicht als
jener gewissenlose Geschäftemacher angesehen werden, der aus Profitgier im Kriege
die Belange der Allgemeinheit seiner Gewinnsucht opfert, eine besondere Gefahr für
die Durchführung der kriegswirtschaftlichen Bestimmungen bedeutet und den die
Kriegswirtschaftsverordnung als schweren Kriegsverbrecher im Auge hat.“101
Die sondergerichtliche Selbst- und Fremdpositionierung des bäuerlichen Schwarz-
schlächters als leichteres Verbrechens gegen die KWVO wirkte stabilisierend auf
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937