Seite - 603 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 603 -
Text der Seite - 603 -
603Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
sich schrittweise die Position des patriarchalischen „Hausvaters“ an. Seine Macht
mochte dem Vertrauen entsprungen sein, das die Bäuerin ihm als Gehilfen der
„Schwarzschlachtungen“ schenkte, oder aber seiner Drohung, das ihm entgegen-
gebrachte Vertrauen zu brechen. Wie auch immer, der Fall offenbart die Vertrau-
ensbasis als wichtige Ressource ländlichen Wirtschaftens im Allgemeinen und der
Schattenwirtschaft im Besonderen. War keine Vertrauensbasis gegeben, versuchten
Betriebsbesitzer/-innen nicht genehmigte Schlachtungen vor anderen Haushalts-
und Betriebsangehörigen zu verheimlichen, etwa während der Abwesenheit der
Bediensteten vom Hof oder der Nachtruhe.104 Kurz, Vertrauen oder Verheimli-
chen – so lautete eine der Schlüsselentscheidungen, die sich bäuerlichen Schwarz-
schlächtern stellte. Freilich schien in Paarbeziehungen das Vertrauen unumgäng-
lich, weil das Verheimlichen im Rahmen der bäuerlichen Familienwirtschaft kaum
durchzuhalten war – zumal es sich beim Schlachten von Schweinen und Rindern
um eine Tätigkeit handelte, die Mithelfer/-innen erforderte. Wechselseitiges Ver-
trauen war im bäuerlichen Familienbetrieb weniger eine Wahl, als vielmehr ein
alltäglicher Zwang.
Im Zentrum der zweitgrößten Gruppe sondergerichtlich Verurteilter, der bäu-
erlichen Schleichhändler, steht der Fall des 1885 geborenen Andreas Kobilic, der in
Bischofswarth, Kreis Nikolsburg, einen sechs Hektar großen Landwirtschaftsbe-
trieb als Witwer allein führte. 1942 musste er sich, neben seinem Sohn und ei-
nem Wiener Händler, vor dem Sondergericht beim Landgericht Wien wegen der
„Schwarzschlachtung“ eines Schweines und dessen Verkauf im „Schleichhandel“
zu Überpreisen verantworten.105 Das Sondergericht unter dem Vorsitz von Richter
Eder sah die in der Anklage erhobenen Vorwürfe als erwiesen an. Es nahm an, dass
Kobilic „bewusst die Interessen der Volksgemeinschaft dem persönlichen Vorteil
hintansetzte“, somit „böswillig“ bewirtschaftetes Schweinefleisch in erheblichem
Ausmaß beiseite schaffte und dadurch die Bedarfsdeckung der Bevölkerung ge-
fährdete. Wegen eines schweren Verbrechens gegen die KWVO wurde der An-
geklagte zu einer Zuchthausstrafe, allerdings nur im Mindestmaß von einem Jahr,
verurteilt. Zudem wurden wegen des Vergehens gegen die Reichsabgaben- und
die Preisstrafrechtsverordnung eine Geldstrafe von 100 Reichsmark und ein Wert-
ersatz von 33,60 Reichsmark verhängt. Als erschwerend wertete das Gericht das
Zusammentreffen eines Verbrechens und zweier Vergehen sowie die Verleitung
der übrigen Angeklagten, als mildernd das Geständnis, die Unbescholtenheit, die
Sorgepflicht für drei der sechs Kinder und eine gewisse Zwangslage.106
Welche gesellschaftliche Konstellation offenbart dieser Gerichtsfall ? Die
Zwangslage, von der das Gericht sprach, bezog sich auf die immensen Schulden,
die sich auf dem von den Eltern übernommenen Anwesen angehäuft hatten. Der
Hauptgläubiger, die Raiffeisenkasse Eisgrub, hatte 1941 ein Zwangsversteige-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937