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611Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
Betriebsführung folgend, die ausnahmsweise Leitungsfunktion als mildernd.118
Doch häufig lief die Positionierung auf den „Kriegsschieber“ hinaus : So etwa habe
ein der vierfachen „Schwarzschlachtung“ von Schweinen und des „Schleichhan-
dels“ nach Wien überführter ehemaliger Betriebsbesitzer die Tat „nicht begangen,
um sich Fleisch für den eigenen Bedarf zu verschaffen, sondern lediglich, um das
Fleisch in die Stadt zu verschieben und daraus einen Gewinn zu erzielen“. Zwar
konnte ihm nicht nachgewiesen werden, „daß er, wofür ein dringender Verdacht
besteht, überhöhte Schleichhandelspreise genommen hat“ ; doch habe er „rein aus
Gewinnsucht“ gehandelt.119 Neben der „Gewinnsucht“ umfasste das Repertoire
der Attribute, die den bäuerlichen Schleichhändlern zugeschrieben wurden, etwa
den „verabscheuungswürdige[n] Eigennutz“,120 die „schnödeste Gewinnsucht
und Geldgier“,121 die „Bereicherungsabsicht“,122 das Verhalten als „Kriegsschäd-
ling“123 – kurz, ein „typischer Schleichhändler“.124 Im nationalsozialistischen Dis-
kurs figurierte der bäuerliche „Kriegsschieber“ als negative Position, als das glatte
Gegenteil des positiv positionierten „ehrbaren Bauern“. Er übersteigerte die ambi-
valente Position des wirtschaftlich erfolgreichen, aber eigennützigen „Landwirts“
ins Negative. Folglich zog der Nachweis eines schweren Verbrechens gegen die
KWVO häufig auch die Aberkennung der „Bauernfähigkeit“ aufgrund des REG
nach sich.
Die drittgrößte Gruppe sondergerichtlich Verurteilter, die bediensteten Getreide-
verfütterer, ist hinsichtlich der Delikte die am wenigsten einheitliche. Sie umfasst
Bauernsöhne und -töchter, die Beihilfe zur „Schwarzschlachtung“ leisteten,125
Landarbeiter/-innen und Gutsverwalter, die verbotenerweise Brotgetreide oder
Milch verfütterten,126 Betriebsinhaber/-innen, die Getreide, Gemüse und sons-
tige Produkte im „Schleichhandel“ absetzten.127 Um das Merkmalsprofil dieser
Gruppe
– unselbstständige Beschäftigung und Verfütterung von Brotgetreide
– zur
Geltung kommen zu lassen, wird nicht der zentrale,128 sondern ein benachbarter
Fall ausgewählt. Rudolf Kappler, geboren 1881 und pensionierter Offizier mit aris-
tokratischem Hintergrund („von Wackerritt“), war auf dem Forstgut Rappoltenkir-
chen, Kreis Tulln, als Verwalter tätig. 1942 wurde er wegen Verbrechens gegen die
KWVO, der Verfütterung von Brotgetreide, angeklagt.129 Das Sondergericht beim
Landgericht St. Pölten unter dem Vorsitz von Richter Zednik rückte in der Haupt-
verhandlung jedoch von der Anklage ab ; es verurteilte Kappler lediglich aufgrund
der VRStVO zu drei Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 800 Reichs-
mark, wobei das Geständnis des Angeklagten strafmildernd wirkte.130
Der Fall beleuchtet die Einbettung eines Gutsbetriebes in die ländliche, bäuer-
lich geprägte Gesellschaft. Der Großteil des landwirtschaftlichen Gutsbesitzes, 159
Hektar Äcker und Wiesen, war hof- und parzellenweise an bäuerliche Pächter/-
innen aus der Umgebung vergeben ; der forstwirtschaftliche Teil, 589 Hektar Wald,
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937