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617Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
„nicht auf Dekagramm genau“ zu sein und, vor allem bei „notleidenden Familien“,
bis zu einem Drittel weniger als das tatsächliche Gewicht zu veranschlagen.144
Diese den amtlichen Vorschriften wider-, den bäuerlichen Interessen entspre-
chende Moralauffassung herrschte nicht allein auf Gemeindeebene vor ; sie fand
auch fallweise Deckung, wenn nicht Unterstützung durch Amtsträger auf höheren
Ebenen.
Solche Hintergründe wurden in den Verfahren in der Regel nicht erörtert ; doch
in einem Ausnahmefall kam ebendies zur Sprache. Der Ortsbauernführer von Er-
lauf, Kreis Melk, zugleich Anerbenrichter, Gemeinderat und NSDAP-Mitglied,
wurde 1942 zum amtlichen Wieger bei Fleischbeschauen bestellt. Sein Vorgän-
ger hatte sich durch die „überall gleichmäßig genau[e]“ Amtsführung den Unmut
der lokalen Bauernschaft zugezogen – und wurde deshalb nach der Einrückung
des Bürgermeisters, der ihn protegiert hatte, von dessen Stellvertreter des Am-
tes enthoben und durch den Ortsbauernführer ersetzt. Der neue Wieger ging bei
seinen Amtshandlungen so vor, dass er vor der Verwiegung Kopf und Beine der
Schlachttiere abtrennen ließ und vom verbleibenden Gewicht noch ein Drittel
abzog. Zudem gab er vollwertige Schweine als minderwertige „Kümmerer“ aus.
Diese Vorgangsweise leitete binnen weniger Monate mehr als eine Tonne Fleisch
von der Bewirtschaftung in die Bauernhaushalte um. Dabei berücksichtigte der
amtliche Wieger vor allem kinderlose Haushalte, deren Fleischrationen aufgrund
der altersunabhängigen Kopfquoten knapp bemessen waren, und Betriebe, die auf
Taglöhner/-innen angewiesen waren. Nicht nur der Stellvertreter des eingerückten
Bürgermeisters, sondern auch die Kreisbehörden stärkten ihm dabei den Rücken :
Die Kreisbauernschaft verlautete bei einer Ortsbauernführertagung, „beim Abwie-
gen müsse das Zünglein an der Waage nicht ziehen, da der Bauer schwer arbeite
und deshalb auch mehr als die anderen haben müsse“ und „der Landrat habe keine
scharfe Auffassung des Schlachtgewichtes befürwortet“.145
Was dieser außergewöhnliche Normalfall hier zur Sprache bringt, ist das meist
stillschweigende Einverständnis regionaler und lokaler Amtsträger in Reichsnähr-
stand und Verwaltungsbehörden, die Kriegswirtschaftsbestimmungen differenziert
anzuwenden. Die Differenzierung bezog sich allgemein auf die gesamte Bauern-
schaft, der angesichts der Zumutungen der Kriegswirtschaft als Anreiz eine pri-
vilegierte Stellung hinsichtlich der Nahrungsmittelversorgung gegenüber anderen
Gruppen der Gesellschaft zuerkannt wurde. Im Besonderen bezog sie sich auf
einzelne „Härtefälle“, etwa die von der Verköstigung nichtständiger Arbeitskräfte
abhängigen Betriebe und Haushalte. Die äußerlich und innerlich differenzierte
Handhabung der Kriegswirtschaftsbestimmungen konnte freilich den völligen
Konsens der bäuerlichen Bevölkerung mit dem NS-Regime nicht sichern ; doch
zumindest war sie geeignet, den Dissens einzudämmen. Auf diese Weise ver-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937