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621Die
verlorene „Erzeugungsschlacht“ ?
lung in der Weimarer Republik (1925–1932), dem Dritten Reich (1933–1938) und
der frühen Bundesrepublik Deutschland (1950–1959) ohne Zweifel belegt, dass
die nationalsozialistische Erzeugungsschlacht in den Friedensjahren des Dritten
Reichs an allen Fronten verloren wurde.“159
Gilt das Urteil der „an allen Fronten verloren[en]“ nationalsozialistischen „Er-
zeugungsschlacht“ auch für Niederdonau in den Kriegsjahren ? Oder, um im Bild
zu bleiben, wurden etwa an manchen Frontabschnitten auch Siege errungen ? Zur
Beantwortung dieser Fragen stehen uns, trotz aller Informationslücken, einige
Messgrößen der Pflanzen- und Tierproduktion auf Basis der amtlichen Statistik
zur Verfügung. Freilich verdienen diese zeitgenössischen Angaben ein gewisses
Misstrauen : Die Jahresergebnisse erfassen nur den amtlich erhobenen Bereich der
Bewirtschaftung ; sie blenden die hinter dem Rücken der Amtsträger – und ge-
legentlich unter deren Beteiligung – florierende Schattenwirtschaft aus. Zudem
wird der Vergleich der Jahresergebnisse durch den Wechsel der Erhebungsweise
eingeschränkt : Bis 1938 wurden der Bodennutzungsstatistik das Lageprinzip, die
Zusammenfassung aller in einem Gebiet liegenden Grundstücke, und der Ernte-
statistik die Schätzungen der landwirtschaftlichen Hauptkörperschaften zugrunde
gelegt. Ab 1939 kamen das Wirtschaftsprinzip, die Zusammenfassung aller durch
die Angehörigen eines Gebietes bewirtschafteten, aber nicht notwendigerweise
in diesem Gebiet liegenden Grundstücke, und die Berechnungen amtlicher Be-
richterstatter zum Tragen.160 Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen und
mit Konzentration auf relative statt absolute Größen erlaubt die amtliche Agrar-
statistik dennoch eine annähernde Bilanz der „Kriegserzeugungsschlacht“. Unser
Augenmerk liegt dabei auf drei Maßstäben : dem Faktoraufwand, dem Produk-
tionsertrag und, als Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag, der Produktivität,
zunächst für die Pflanzen- und Tierproduktion gesondert und schließlich für die
Gesamtproduktion.
Das oberste Gebot der „Zehn Gebote der Erzeugungsschlacht“ forderte für
die „deutsche Landwirtschaft“ : „Nutze Deinen Boden intensiv : Das raumarme
Deutschland kann sich Extensität nicht leisten.“161 Dieser religionsverwand-
ten Rhetorik zufolge galt aus der Nutzung genommenes oder brach liegendes
Ackerland als Todsünde. Die Ackerfläche auf dem Gebiet des früheren Nieder-
österreichs und nördlichen Burgenlandes nahm während des Krieges mäßig, aber
beständig ab (Abbildung 7.9). Allerdings variierten die Bezirke, in denen die drei
Untersuchungsregionen lagen, dieses Muster : Die Entwicklung in Gmünd ent-
sprach etwa der Gesamtentwicklung. In Gän sern dorf, einem der ertragreichs-
ten Ackerbaugebiete des Reichsgaues, war der Rückgang etwas moderater, in
Melk, wo Grundablösen für den Reichsautobahnbau erfolgten, etwas ausgepräg-
ter. Extremere Verläufe kennzeichneten die Bezirke Eisenstadt und Krems, wo
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937