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670 Ordnung und Chaos des Marktes
ches nach dem „Anschluss“. Der Agrarökonom Ludwig Löhr unternahm 1939
den Versuch, die Kosten des „Anschlusses“ für die ostmärkische Landwirtschaft
zu kalkulieren (Tabelle 7.21). Zu diesem Zweck stellte er „Plus-“ und „Minus-
posten“ einander gegenüber. Zu den „Plusposten“ zählten die Handelsdüngerkos-
ten, die bei steigendem Verbrauch im Schnitt um vier Zehntel gesunken waren.
Die Milchpreise waren durch die Senkung der Transportkosten und der Spannen
des Zwischenhandels im Schnitt um einen Reichspfennig pro Liter gestiegen ;
zudem fiel die vor dem „Anschluss“ geltende Produktionsbeschränkung weg.
Schließlich trugen die Zuckerrübenpreise, die durch Rationalisierungsmaßnah-
men in der Zuckerindustrie angehoben werden konnten, und der Wegfall der
Mengenbeschränkung zur Mehrung der Einnahmen bei. Zu den „Minusposten“
gehörten die Kosten des Handelsfutters, die – bedingt durch den Wegfall der
Futtermittellizenzgebühr aus der Zeit vor dem „Anschluss“ – erheblich unter den
Preisen des „Altreichs“ lagen ; die absehbare Angleichung an das reichsdeutsche
Preisniveau und die Mehrkosten von Ersatzfuttermitteln für die bevorstehenden
Einschränkungen an importierten Mais- und Gerstelieferungen ließen erhebliche
Kostensteigerungen erwarten. Ähnlich war die Preissituation beim Getreide ; das
Auslaufen der noch geltenden „Ostmarkaufschläge“ bei Weizen und Hafer, die
das Gefälle zwischen ostmärkischem und reichsdeutschem Preisniveau ausglichen,
war bereits voll im Gang. Bei den Kartoffelpreisen war wegen der Koppelung
an den – in der Ostmark vergleichsweise niedrigen – Stärkegehalt eine Minde-
rung eingetreten. Eine schwerwiegende Belastung entstand durch die im Schnitt
40-prozentigen Steigerungen der Landarbeitslöhne im Gefolge der „Landflucht“.
An diese Zunahme wurde auch die Kalkulation der enormen Lohnansprüche der
Familienangehörigen gekoppelt.
Der Abzug der „Minus-“ von den „Plusposten“ ergab für Wien und Nieder-
donau einen Reinertragsrückgang von knapp 62,8 Millionen Reichsmark, etwa
40 Prozent des gesamten Rückgangs in der Ostmark ; der Rückgang von 364
Reichsmark pro Betrieb lag leicht über dem Gesamtdurchschnitt von 359 Reichs-
mark. Unter Ausschluss der Lohnansprüche der Familienangehörigen ergab sich
ein Einkommensrückgang von 22,1 Millionen Reichsmark, rund 47 Prozent des
ostmärkischen Gesamtrückgangs ; pro Betrieb betrug die Einkommensminderung
128 gegenüber insgesamt 109 Reichsmark, pro Familienarbeitskraft 52 gegenüber
insgesamt 42 Reichsmark. Diese Bilanz ging von der vollständigen Angleichung
der in der Ostmark noch höheren Weizen- und niedrigeren Futtermittelpreise
an das „Altreich“ in absehbarer Zeit aus ; die übrigen Veränderungen waren be-
reits eingetreten.205 Wenn wir dieser – auf einigen Unwägbarkeiten beruhenden,
aber im Grunde nachvollziehbaren – Kalkulation folgen, war der Agrarsektor
in Wien und Niederdonau erheblich stärker als der Durchschnitt der Ostmark
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937