Seite - 672 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 672 -
Text der Seite - 672 -
672 Ordnung und Chaos des Marktes
22 Prozent abgesunken. Für die Bewertung der seit dem „Anschluss“ eingetrete-
nen Ertrags- und Einkommenseinbußen müsse beachtet werden : „Im Vergleich
zu Handwerk, Gewerbe und Industrie hat also die ostmärkische Landwirtschaft
vor dem Umbruch eine außerordentlich starke Unterbewertung ihrer Leistungen
erfahren.“206 Und weiter : „Damit ist der Bauer der schlechtest bezahlte Landar-
beiter, beziehungsweise Arbeiter im Staat überhaupt.“207 Der Forderungskatalog
zielte darauf ab, die bäuerliche Bevölkerung durch höhere Erträge und Einkom-
men auf der Scholle zu halten : Die Preisangleichungen bei Weizen und Futter-
mitteln sollten nur „nach Maßgabe der Umstellungsfähigkeit der ostmärkischen
Betriebe“ erfolgen ; da die Umstellungsfähigkeit vor allem in den Berggebieten
beeinträchtigt sei, müssten ausreichend Handelsfuttermittel für die Ostmark re-
serviert werden ; die Ausschaltung der Transportkosten durch Zuschüsse sollte die
„Gleichpreisigkeit aller Betriebsmittel und Erzeugnisse frei jeder ostmärkischen
Dorfgemeinschaft“ bewirken ; eine Milchpreissteigerung um vier Reichspfennig je
Liter würde die eingetretenen Barlohnsteigerungen ausgleichen ; die Ermäßigung
der Grundsteuer im Zuge der Einheitsbewertung sei gerechtfertigt, weil sie un-
abhängig vom Ertrag und Einkommen geleistet werden müsse ; die „Landflucht“
müsse, über zeitweilige Ernteeinsätze hinaus, durch eine „wirksame Tat“ bezwun-
gen werden. Kurz, es sei unumgänglich, „den bäuerlichen Arbeitsertrag zu verbes-
sern und das Vertrauen der Bauernschaft in ihre eigene Leistungsfähigkeit wieder
zu festigen“.208
Löhr bezog damit einen Standpunkt, der in der agrarökonomischen Debatte im
„Dritten Reich“, die mit Kriegsbeginn 1939, kurz nach Fertigstellung der Studie,
aufflammte, zunehmend in Zweifel gezogen wurde. Er maß die bäuerliche „Leis-
tung“ vor allem an der Bodenproduktivität : Je mehr Erträge die Scholle abwarf, umso
mehr Menschen konnten darauf ein Auskommen finden. Dieser Leistungsmaßstab
war Teil des Projektes der „Erzeugungsschlacht“, die jedoch nicht die erwarteten
Erfolge brachte. Die Gegenposition, die Arbeitsproduktivität als Leistungsmaß-
stab, vertrat das Expertennetzwerk um Konrad Meyer, den obersten Raumforscher
und -planer des „Dritten Reiches“ ; diese Gruppe gewann durch die deutsche Ex-
pansion in Osteuropa an Gewicht : Je mehr Erträge eine Arbeitskraft im Reichs-
gebiet – besonders in den Klein- und Bergbauernregionen – erzielte, umso mehr
Menschen standen für die Kolonisierung der „eroberten Ostgebiete“ zu Verfügung.
Diese Art der Messung bäuerlicher „Leistung“ bezog sich auf das Projekt der agra-
rischen „Großraumplanung“. Auf diese Weise konnten agrarökonomische und ras-
senpolitische Gesichtspunkte
– „leistungsfähige“ Betriebe, bewirtschaftet von „leis-
tungsfähigen“ Menschen
– zur Deckung gebracht werden.209 Die Umsetzung dieser
Pläne in der Ostmark hätte eine massive Umsiedelung der bäuerlichen Bevölkerung
aus den Realteilungsgebieten im Osten und Westen des Landes sowie aus dem
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937