Seite - 703 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 703 -
Text der Seite - 703 -
703Jenseits
von Traditionalität und Modernität
„When we use the framework of modernization to understand the rural policies of the
Nazi regime, we are confronted with a dilemma. We encounter an overarching ideol-
ogy that emphasized traditional farming, elevated the peasant as the racial and cultural
essence of the nation, and promised to preserve the peasant world. At the same time,
we see that powerful trends of agrarian modernization continued throughout the pe-
riod ; and we encounter a Nazi vision of food autarky, involving the reorganization
of the European market, that was revolutionary in itself. Agrarian policies in Nazi
Germany can only be understood in the context of modernization. The blood and soil
policy drowned out structural changes and the war imposed other economic priorities,
but there was no doubt in the minds of the Nazi leaders that the modern Bauernreich
would emerge when the time was right.“29
Das Dilemma bestand darin, dass der Nationalsozialismus das Bauerntum aus
rassenideologischen Motiven beschützte und den Strukturwandel bremste, diesen
aber zugleich aus autarkie- und kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten zuließ.
Die Auflösung dieses Dilemmas verschob die NS-Führung auf ein künftiges „Bau-
ernreich“ als visionäre Symbiose aus traditionellem Bauerntum und modernem
Agrarsektor. Doch in Wirklichkeit erfasste nach dem Ende des „Dritten Reiches“
der Strukturwandel das Bauerntum mit voller Wucht, sodass die NS-Ära nur als
„Galgenfrist“ auf dem Weg in den Untergang erscheint : „The twelve years of the
Third Reich were like an interlude in terms of modernization, offering a reprieve
from the long-term trend of structural change taking place.“30 Zwar betont Ger-
hard die Ambivalenz der NS-Agrarpolitik zwischen Traditionalität und Moderni-
tät ; doch erscheint der Nationalsozialismus insgesamt nicht als Triebkraft, sondern
als Bremsklotz der Agrarmodernisierung. Diese Einschätzung erfolgt aus einer auf
den forcierten Strukturwandel der Nachkriegszeit fixierten Nach-1945er-Perspek-
tive ; aus einer für Alternativentwicklungen offenen Vor-1945er-Perspektive trägt
die Metapher vom „Zwischenspiel“ auf dem Weg in die Moderne freilich in ge-
ringerem Maß.
Das erstaunliche Zögern der Forschung, der nationalsozialistischen Agrarge-
sellschaft das Attribut ‚modern‘ zuzugestehen, verweist auf die bislang nur unvoll-
ständige Reflexion des klassischen Modernisierungsbegriffs. Zwar hat das Konzept
der „alternativen Moderne“ die räumliche Fixierung auf den westeuropäischen
Normalweg aufgebrochen. Doch die zeitliche Fixierung des (teil-)reflexiven Mo-
dernisierungsbegriffs auf die „langen 1960er Jahre“ bleibt ungebrochen.31 Im grel-
len Gegenlicht der Hochmoderne im Nachkriegsboom verblassen alle Moderni-
sierungsschritte der NS-Ära – vor allem dann, wenn allein technische (und nicht
auch institutionelle) Aspekte im Blickpunkt stehen. Wie der räumliche Gegensatz
zwischen dem Westen und dem ‚Rest‘ müsste ein wahrlich reflexiver Modernisie-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937