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711Großbritannien
und die Ostmark im Krieg
nach italienischem Vorbild ab 1934 jährlich „Erzeugungsschlachten“ aus, um die
Nahrungsmitteleinfuhr zugunsten der Einfuhr rüstungsindustriell bedeutsamer
Rohstoffe zu verringern.61
Die deutschen Produktionsprobleme, allen voran die „Eiweiß-“ und „Fettlücke“,
schienen jedoch im nationalstaatlichen Rahmen unter Abkoppelung vom Welt-
markt nicht lösbar. Daher verlagerte sich mit Kriegsbeginn die Zielrichtung der
jährlichen „(Kriegs-)Erzeugungsschlachten“ von der Bodenproduktivität im vom
Versailler Vertrag 1919 eingeschränkten Reichsgebiet zur Arbeitsproduktivität im
gewaltsam erweiterten „germanischen Großraum“.62 Anstatt forcierter Mobili-
sierung des inländischen Arbeitskräftepotenzials nach britischem Muster setzte
das Deutsche Reich im Rahmen des Kompromisses zwischen Rassenideologie
und Kriegswirtschaft vor allem auf den Masseneinsatz von Kriegsgefangenen und
ausländischen Zivilarbeitskräften. Entgegen der Vision von der „Aufrüstung des
Dorfes“ schränkte der Kriegswirtschaftsapparat mit dem Übergang vom Blitz-
zum Abnützungskrieg 1941/42 auch in den Alpen- und Donaureichsgauen die
Ressourcenzuteilung an den Agrarsektor zugunsten des Rüstungskomplexes ein.
Angesichts der rückläufigen Inlandsproduktion an Nahrungsmitteln mangels Ar-
beits- und Kapitalressourcen gewährleistete vor allem die rigide, millionenfachen
Tod einkalkulierende Ausbeutung der abhängigen und besetzten Gebiete Ost- und
Südosteuropas die Grundversorgung der deutschen Zivilbevölkerung und des Mi-
litärs – und damit die Massenloyalität – bis gegen Kriegsende.63
Um die nationalstaatlichen Regulative über intermediäre Instanzen in der länd-
lichen Gesellschaft umzusetzen, beschritten Großbritannien und das Deutsche
Reich teils ähnliche, teils unterschiedliche Wege. Das britische Landwirtschafts-
ministerium installierte 1939 in allen Grafschaften War Agricultural Executive
Committees (WAEC), die durch Subkomitees für bestimmte Arbeitsbereiche
(Maschinen, Viehzucht, Drainage usw.) sowie Bezirkskomitees ergänzt wurden.64
Die von einer Vorgängerinstitution im Ersten Weltkrieg inspirierten Komitees
umfassten jeweils ein Team aus technisch und organisatorisch versierten Angestell-
ten unter Leitung eines Geschäftsführers und mehrere freiwillige Helfer/-innen.
Trotz des dezentralen und demokratisch anmutenden Organisationsaufbaus hatten
die Komitees die Aufgabe, die Anordnungen des Ministeriums vor Ort – auch
gegen Widerstände der Farmer – durchzusetzen. Zusammen mit den materiel-
len Anreizen suchten die WAEC der moralischen Umorientierung der Farmer im
Sinn einer Produktionsethik zum Durchbruch zu verhelfen.65
Die Aufgaben der WAEC umfassten die allgemeine Verwaltung, technische Be-
ratung und Sanktionen. In den ersten Aufgabenbereich fielen die Umsetzung der
kriegsbedingten Vorschriften, die Koordination der Umbruchs- und Drainagear-
beiten, die Förderung der Pflanzen- und Tierproduktion sowie die Versorgung mit
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937