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713Großbritannien
und die Ostmark im Krieg
tanzen ; sie machten sich mitunter auch zum Anwalt bäuerlicher Interessen, um die
Legitimität gegenüber ihrer Klientel zu stärken. Im Verwaltungsalltag schwenkten
die Amtsträger im Kriegsverlauf von agrarideologischen zu kriegswirtschaftlichen
Prioritären um ; den Hof möglichst produktiv
– mit viel Ertrag trotz knapper Mit-
tel
– zu führen, wurde zur herausragenden Tugend der „Bauern“ und „Landwirte“.70
Der Reichsnährstand konnte ‚unproduktiv‘ wirtschaftende Betriebsleiter/-innen
zwar nicht selbst absetzen, dies jedoch gerichtlich beantragen. Betroffene „Bauern“
im Sinn des REG kamen vor die Erbhofgerichtsbarkeit, die über die „Wirtschafts-
fähigkeit“ als Aspekt der „Bauernfähigkeit“ entschied. Die nicht erbhofrechtlich
erfassten Betriebsbesitzer/-innen, die „Landwirte“, unterlagen der allgemeinen
Gerichtsbarkeit. Im Fall eines befristeten oder permanenten Entzugs der Besitz-
rechte auf dem Gerichtsweg übernahm meist der dem Reichsnährstand zugehö-
rige Landwirtschaftliche Treuhandverband die Bewirtschaftung. Anders als die in
Großbritannien durch die WAEC Enteigneten konnten im Deutschen Reich die
Gemaßregelten gegen gerichtliche Enteignungen Berufung einlegen ; folglich zo-
gen sich derartige Verfahren meist in die Länge. Wirkung entfalteten die gericht-
lichen Enteignungen weniger durch die davon betroffene Minderheit, als durch
deren abschreckende Wirkung auf die Mehrheit der Hofinhaber/-innen.71 Wie
das Tätigkeitsfeld der WAEC waren auch die Kreis- und Ortsbauernschaften in
persönliche Beziehungsnetzwerke verstrickt. Für Niederdonau lässt sich zeigen,
dass der Gerichtssaal nicht selten als Vorderbühne eines auf der Hinterbühne lau-
fenden Beziehungsdramas um das Besitzrecht am Hof diente. Dabei spielte der
Reichsnährstand die Doppelrolle einer bäuerlichen Interessenvertretung sowie ei-
nes zunächst agrarideologischen, dann zunehmend kriegswirtschaftlichen Kont-
rollinstruments.72
Die institutionellen Regelungen des britischen und österreichischen Agrarsys-
tems im Krieg auf nationalstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene waren eng ver-
woben mit den technischen Elementen des Ressourceneinsatzes und -flusses. Wie
in allen Krieg führenden Ländern stand auch in Großbritannien und dem vom
Deutschen Reich annektierten Österreich die Landwirtschaft mit anderen Sek-
toren, vor allem Rüstungsindustrie und Militär, im verschärften Wettbewerb um
Landressourcen.73 So verringerten sich die landwirtschaftlich genutzten Flächen
1939 bis 1944 in Großbritannien um 2,1 Prozent, auf vormals österreichischem
Gebiet um 0,6 Prozent. Jedoch vermochte Großbritannien den Anteil der Äcker
von 41 auf 62 Prozent auszudehnen, während das Gebiet Österreichs einen
– wenn
auch mäßigen – Rückgang von 43 auf 41 Prozent verzeichnete (Tabelle 8.3). Die
Verschiebungen der Landnutzungsintensität waren jeweils regional ungleich ver-
teilt : In England und Wales zeigten die gebirgigen Regionen im Norden, Wes-
ten und Süden, die vor dem Krieg geringe Ackeranteile aufwiesen, weitaus hö-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937