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725Großbritannien
und die Ostmark im Krieg
staats verschwammen die Unterschiede zwischen parlamentarischer Demokratie
und Einparteiendiktatur. Das britische Agrarsystem zeigte etwa bei den staatli-
chen Eingriffen in Landbesitzrechte autoritärere Züge als das deutsche, das
– etwa
im Berufungsrecht gegen erbhofgerichtliche Urteile – Reste demokratischer Ele-
mente enthielt. Gleichwohl blieben fundamentale Systemunterschiede aufrecht :
Der britische Staat folgte bei seinen Eingriffen vor allem kriegswirtschaftlichen
Erfordernissen, während der NS-Staat mit agrar- und ernährungswirtschaftlichen
Maßnahmen meist auch rassenpolitische Ziele verfolgte. Die von der Markt- und
Preis- zur Strukturpolitik ausgreifende Durchstaatlichung – die gesamtstaatliche
Integration mittlerer und unterer Verwaltungsebenen zum Zweck der nationalen
Ressourcenmobilisierung86 – des britischen und österreichischen Agrarsystems
setzte auf mehrere Regulative : teils auf äußere Steuerungsinstrumente des Agrar-
apparats, teils auf die Verinnerlichung einer produktivistischen Wirtschaftsmoral
durch ländliche Akteure. Der Anreiz staatssubventionierter Preise in Großbritan-
nien vermochte die Produktionsleistungen weitaus stärker zu heben als der staat-
liche Ablieferungszwang im Deutschen Reich.87 Trotz unterschiedlicher Akzente
wurde in beiden Ländern der agrarische Interventionsstaat zur Normalität ; kaum
jemand stellte zu Ende des Zweiten Weltkriegs die – etwa zu Beginn des Ersten
Weltkriegs noch heftig debattierte88 – Legitimität weitreichender und tiefgreifen-
der Staatseingriffe im Agrarsektor infrage.
Auch die technische Ebene des britischen und österreichischen Agrarsystems
zeigt eine übergreifende Gemeinsamkeit : Die durch den Krieg verknappte Verfüg-
barkeit der Produktionsfaktoren Land und Arbeit induzierte in beiden Fällen den
Einsatz land- und arbeitssparender Technologien, basierend auf dem Verbrauch
fossiler Energieträger. Im britischen Fall äußerte sich die auf Basis des Lend-
Lease-Abkommens mit den USA vervielfachte Kapitalintensität in Kombination
mit dem Nutzungswandel von Grün- zu Ackerland in wachsender Bodenpro-
duktivität ; hingegen nahm die Arbeitsproduktivität aufgrund der Mobilisierung
zusätzlicher Landarbeitskräfte ab. Im österreichischen Fall vermochte die bis zur
Kriegswende 1941/42 anhaltende, danach abebbende Technisierungswelle mangels
Arbeitskräften und Betriebsmittel den Rückgang der Bodenproduktivität nicht zu
verhindern ; hingegen rangierte die Arbeitsproduktivität teils durch zunehmenden
Maschineneinsatz, teils durch die Kompensation fehlender Arbeitskräfte mittels
Selbst- und Fremdausbeutung bis 1943 über dem Vorkriegswert. Trotz kriegsbe-
dingter Engpässe belegen die beiden Vergleichsfälle einen klaren – im britischen
Fall stärker, im österreichischen Fall schwächer ausgeprägten – Trend zur Kapital-
intensivierung. Die gekoppelte Motorisierung und Chemisierung der Landbewirt-
schaftung auf fossilenergetischer Basis stellte die Weichen für einen produktivisti-
schen Pfad, der nach dem Krieg die Agrarentwicklung beider Länder leitete.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937