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727Österreich
zwischen Krise und Boom
Gegen die Interessen von Industrie- und Arbeitnehmervertretern startete der
1931 zum Minister für Land- und Forstwirtschaft und 1932 zum Bundeskanzler
aufgestiegene Engelbert Dollfuß, gestützt auf den niederösterreichischen Macht-
block aus Bauernbund, Landwirtschaftskammer und Genossenschaftsapparat,
eine Reihe von Ordnungsversuchen auf den destabilisierten, vom Preisverfall er-
fassten Produktmärkten (Viehverkehrsstelle 1931, Milchausgleichsfonds 1931,
Roggenpreisstabilisierung 1933 usw.). Diese Marktordnungen entsprechend dem
„agrarischen Kurs“ suchten über den Außenschutz mittels Zollerhöhungen und
Einfuhrkontingenten hinaus den Binnenagrarmarkt durch Preisstützungen und
Mengenbeschränkungen zu stabilisieren.95 Der aus christlichsozialer Weltsicht
nicht allein ökonomische Zwecke erfüllende, sondern auch außerökonomische
Werte verkörpernde „Bauernstand“ sollte nicht im Strukturwandel dem krisenan-
fälligen Kapitalismus angepasst
– „gesundgeschrumpft“
– werden, sondern auf dem
vom internationalen Konkurrenzdruck entlasteten Binnenmarkt eine „gerechte“
Existenzbasis finden. Gleichwohl peilte der „agrarische Kurs“ keine Rückkehr zu
einem vorindustriellen Agrarstaat an, sondern suchte die Bauernschaft – weder
„Stand“ im vormodernen noch „Klasse“ im modernen Sinn
– auf Augenhöhe in die
Industriegesellschaft zu integrieren.96
Dieser produzentenorientierte Kurs folgte der zunehmenden Polarisierung
zwischen den regierenden Christlichsozialen und ihren Koalitionspartnern auf
der Rechten und der oppositionellen Sozialdemokratie als Vertreterin von Kon-
sumenteninteressen auf der Linken (obgleich sich Produzenten- und Konsu-
menteninteressen nicht klar trennen ließen). Die Politikkrise eskalierte 1933/34
in der Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie, dem Zweitfrontenkrieg
der Regierung Dollfuß gegen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten sowie der
Errichtung des „christlich-deutschen Ständestaats“ als „faschistisch verkleidete[s]
autoritäre[s] Regime“97. Als Leitmetapher der „berufsständischen Zusammenge-
hörigkeit“ im Kampf gegen die Klassenspaltung diente die patriarchalische Bauern-
familie, in der Herr und Knecht aus der gemeinsamen Schüssel aßen – so Dollfuß
in seiner Trabrennplatzrede 1933. Die Berufsstände waren einerseits öffentlich-
rechtliche Selbstverwaltungskörperschaften, die vormals staatliche Verwaltungs-
aufgaben übernahmen ; andererseits unterlagen sie über die Besetzung der Spit-
zenfunktionäre staatlicher Kontrolle. Der 1935 errichtete Berufsstand Land- und
Forstwirtschaft war ein fragiler Überbau auf der Massenbasis von Bauernbund und
Landwirtschaftskammern, die das Gros der Agrarbevölkerung mittels christlichso-
zialer Lagerbindung98 und zwangsweiser Kammermitgliedschaft zu mobilisieren
vermochten ; dementsprechend ungebrochen war die Kontinuität der Agrareliten
vor und nach 1934/35.99 Der föderal organisierte Berufsstand Land- und Forst-
wirtschaft war ein zahnloser Apparat, der den zentralen Durchgriff der austro-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937