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Einleitung34
dass die kirchlichen Verwaltungsgrenzen lange Zeit keineswegs den politischen Ver-
waltungsgrenzen entsprachen.
Die Lösung dieses definitorischen Problems liegt im Wesen des Habitusbegriffs
selbst : Er ist nicht an territoriale Grenzen gebunden, sondern an imaginierte »Wir-
Gruppen« bzw. »Wir-Ideale«. Wenn also von Kärntnern und Kärntnerinnen die
Rede sein wird, sind damit Individuen gemeint, die sich zur entsprechenden Wir-
Gruppe zugehörig fühlen, wie stark auch immer dieses Zugehörigkeitsgefühl sein
mag (die Ausprägung eines »Wir-Ideals« war für Kärnten im Vergleich zu anderen
Regionen Österreichs besonders nachhaltig, wie noch zu zeigen sein wird).
Menschen können an vielen Wir-Idealen gleichzeitig teilhaben – man kann sich
als Kärntnerin und zugleich als Österreicherin, als Frau und als Mutter, als Katholi-
kin und als Öko-Aktivistin, als Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe oder ei-
ner ethnischen Minderheit usw. fühlen. Wir-Ideale sind integraler Bestandteil des
Ich-Ideals, also des Selbstbilds einer Person. Das Ich-Ideal ist die individuelle Ver-
arbeitung von Erfahrungen von Gruppenprozessen in Bezug auf die eigene Persön-
lichkeitsstruktur, das Wir-Ideal eine individuelle Version verschiedener kollektiver
Phantasien.83 Ich- und Wir-Ideale sind zentrale Bausteine der Identität eines Men-
schen und damit zentrale Bestandteile des sozialen Habitus.84
Die Identität einer Person ist eine individuell einzigartige Kombination von Wir-
und Ich-Idealen.85 Die Wichtigkeit einzelner Identitätsbausteine kann dabei variie-
ren und hängt wesentlich mit den Interdependenzverflechtungen dieser Person und
ihrer Wir-Gruppen zusammen. So kann bspw. ein Westeuropäer, der eine mehr oder
minder indifferente Haltung zu Religion und Kirche hat, im Erleben einer diffusen
Angst vor einer vermeintlichen »Islamisierung« Europas seiner Zugehörigkeit zur
kollektiven Phantasie des »christlichen Abendlandes« in seinem Selbstbild eine hö-
here Bedeutung zuweisen, als es vor Auftreten dieser Angst der Fall war. Mit diesem
Beispiel ist bereits angedeutet, welche Rolle reale oder imaginierte Bedrohungen
und Konflikte für bestimmte Wir-Ideale spielen.86
83 Elias, N./Scotson, J. L.: Etablierte und Außenseiter (2002), 44 f.
84 Elias, N.: Individuen (1987), 246 f.; Dorner-Hörig, C.: Habitus und Politik (2014), 25.
85 »Each person’s self-conception is a unique combination of many identifications, identifications as
broad as woman or man, Catholic or Muslim, or as narrow as being a member of one particular family.
Although self-identity may seem to coincide with a particular human being, identities are actually
much wider than that. They are also collective – identities extend to countries and ethnic communities,
so that people feel injured when other persons sharing their identity are injured or killed. Sometimes
people are even willing to sacrifice their individual lives to preserve their identity group(s).« Kriesberg,
L.: Identity Issues (2003).
86 Konflikt und Gewalt sind ein Teil der Struktur gesellschaftlicher Entwicklung, und nicht einfach eine
destabilisierende chaotische Erscheinung. Elias wies darauf hin, dass erst Marx und Engels das klar
gesehen hätten, dieser Zusammenhang aber durch die statischen Systemmodelle des 20. Jahrhunderts
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353