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Kirche und Habitusentwicklung in
Kärnten78
österreichischen Länder lebten »[d]ie Kärntner Grundherren […] von untertänigen
Giebigkeiten, nicht von der Eigenwirtschaft. Der Wert einer Kärntner Herrschaft
bestimmte sich fortan nicht nach der Grundfläche, […] sondern nach der Zahl der
Untertanen.«89 Da die durch die Bevölkerungsentwicklungen des 14. und 15. Jahr-
hunderts vom finanziellen und sozialen Abstieg bedrohten Grundherren von den
Feudalrenten nun kaum mehr leben konnten, steigerten sie die Gebühren der Un-
tertanen.90 Dieser Mechanismus führte am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
unweigerlich zu sozialen Unruhen, die als »Bauernkriege« bezeichnet werden, sozi-
algeschichtlich aber differenziert wahrgenommen werden müssen.91
Die Geschichte des Aufbegehrens von Kärntner Untertanen ist lang und startet
mit ersten Anzeichen bereits im 13. Jahrhundert, als Bauern der zum Salzburger Stift
St. Peter gehörenden Herrschaft Wieting Abgaben und Arbeit verweigerten.92 Die
soziale Lage der Bauern in Kärnten war alle Zeit bedrückend – und in weiten Teilen
des Landes bedrückender als in anderen Gegenden Österreichs –, wenngleich der
Auslöser für die Aufstände im 16. Jahrhundert eher eine Reaktion auf den Verlust
von zuvor errungenem, relativem Wohlstand war.93 War bis zum 15. Jahrhundert
die persönliche Unfreiheit der Bauern in den österreichischen Erbländern weitge-
hend verschwunden, hielt diese sich im gemischtsprachigen Teil Kärntens bis zum
allgemeinen Ende der Leibeigenschaft 1782. In Salzburg und Tirol bspw. hatte sich
bereits bis zum 15. Jahrhundert ein Erb- bzw. Kaufrecht entwickelt. »In Kärnten hat
sich hingegen bis zu Maria Theresia und Joseph II. kein Herrscher für die Bauern
engagiert ; man scheute die Konfrontation mit den Ständen und Grundherren.«94
Ausdruck dessen ist das Freistiftrecht, demzufolge der Bauer jedes Jahr sein Recht,
den Hof weiter bewirtschaften zu dürfen, neuerlich erkaufen musste. Wenn sein
Herr ihn »abstiften« und von seinem Besitz entfernen wollte, hatte der Bauer auch
89 Zeloth, T.: Gesellschaft Kärntens (2011), 40.
90 Ebd., 39 f.
91 Neben dem sozial überaus breitgefächerten Bauernstand waren auch die Bergknappen eine wichtige
Trägerschicht der Bauernaufstände. Sie unterstanden keiner Grundherrschaft und stellten schon »früh
eine relativ gleichmäßige, selbstbewusste Schichte mit hohem Organisationsgrad« dar. Ebd., 36.
92 Fräss-Ehrfeld, C.: Das Mittelalter (1984), 336.
93 Grund für die soziale Besserstellung gegen Ende des 15. Jahrhunderts war nicht zuletzt der Men-
schenmangel infolge von Pest, Hungersnot, Türkeneinfällen und Ungarnkriegen. Gemäß dem Gesetz
von Angebot und Nachfrage verschob sich die Machtbalance zugunsten der Arbeitskraft anbietenden
Bauern. Ebd., 602–605. Dem Ausbruch der Bauernaufstände am Vorabend der Reformation war also
keineswegs eine Verelendung der Bauern vorausgegangen – im Gegenteil. Der Zeitzeuge Jakob Un-
rest etwa behauptete, dass sie bessere Kleider trugen als ihre Herren und einen gewissen Wohlstand
erreichten. Santonino berichtete im Zuge der Schilderung einer wohlwollenden und noblen Bewir-
tung in einem Bauernhaus in Liesing (Lesachtal), »dass die kleinsten Keuschler erlesene Federbetten
besitzen«. Santonino, P.: Die Reisetagebücher (1947), 45 f. und 58, hier 74.
94 Fräss-Ehrfeld, C.: Die ständische Epoche (1994), 142.
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Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353