Page - 105 - in Die Kirche und die »Kärntner Seele« - Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
Image of the Page - 105 -
Text of the Page - 105 -
105Das
Nationale Zeitalter
habsburgischem Gebiet grundsätzlich als loyal und stimmten mit der Notwendigkeit
aufklärerischer Reformen überein.226 Sie wandten aufklärerische Bildungsideen auf
Fragen der Priesterausbildung, Seelsorge und Armenfürsorge an, förderten das Pfar-
rerideal des »guten Hirten« und bekämpften Auswüchse des volksfrommen Aber-
glaubens und Wallfahrtswesens. Auch traten Konflikte mit den Orden auf, vor allem
mit den Jesuiten, deren Machtposition erheblich geworden war. So wurden viele
Ordensgeistliche der »Verschwendung des Kirchenschatzes« bezichtigt ; man warf
ihnen vor, das Volk in seiner übertriebenen Volksfrömmigkeit zu unterstützen und
zu nachsichtig bei Disziplinierungsmaßnahmen zu agieren.227
Die Reformbischöfe der Aufklärung bekämpften auch überschwänglichen Kir-
chenschmuck, Reliquienkult und Heiligenverehrung, Wundergläubigkeit und eine
damit zusammenhängende, irrationale Angst vor der Macht des Teufels. In diesem
Zusammenhang versuchte man, noch weitere Erscheinungsformen einer ausufern-
den Volksfrömmigkeit bei Prozessionen, Andachten und in Bruderschaften einzu-
dämmen. Darüber hinaus unterstützte man staatliche Disziplinierungsbemühungen
durch Eheunterricht, Hygieneaufklärung oder diverse Maßnahmen im Armenwe-
sen.228
Waren die Pfarren seit jeher Kommunikationszentren am Land, wurden sie nun
immer stärker auch für weltliche Interessen genutzt und fungierten als politische
Kommunikationsorte. Noch im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
war der Pfarrer nur wenig aus der Dorfgemeinde herausgehoben, nun wurde seine
Person zunehmend sakralisiert.229 Zugleich waren aber auch die Anforderungen an
den Seelsorger überaus hoch geworden, sollte er doch »Hirt, Lehrer, Führer, Arzt
und Vater«230 zugleich sein. Einer Disziplinierung der Untertanen musste also eine
viel weiter gehende Disziplinierung des Klerus vorangehen. Dazu gehörten auch die
Pflege des Äußeren und ein entsprechender Lebenswandel – Kleidung und Haar-
tracht sowie Bartschur wurden in diversen Hirtenbriefen ebenso thematisiert wie das
Verbot von Wirtshausbesuchen. Den Dechanten wurden regelmäßige Visitationen
der Landpfarrer vorgeschrieben, die unter anderem auch den Bestand der Pfarrbib-
226 Dolinar, F. M.: Der Josephinismus (2002), 58. Für die für Kärnten maßgeblichen Diözesen können
hier als Habsburg gegenüber loyale, reformorientierte Bischöfe die Gurker Bischöfe Josef Maria von
Thun (Gurker Bischof von 1741 bis 1761) oder Josef Anton von Auersperg (1772–1783) genannt
werden, darüber hinaus Anselm von Edling, Abt von St. Paul (Abt von 1778–1787), der in seinen pas-
toraltheologischen Schriften u. a. für eine deutschsprachige Liturgie, eine bessere Predigtausbildung
und allgemein zugängliche Bibliotheken eintrat. Tropper, P. G.: Hirt (2002), 83–87.
227 Tropper, P. G.: Staatliche Kirchenpolitik (1989), 38–52.
228 Tropper, P. G.: Hirt (2002), 77–81.
229 Tropper, C.: Pfarren (2009), 323.
230 Tropper, P. G.: Hirt (2002).
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353