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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis244
Es besteht kein Zweifel, dass Hemma bei Viesèr eindeutig eine Kärntnerin ist, auch
wenn ihr – historisch unbekannter – Geburtsort nicht thematisiert wird.98 Freilich
musste Hemma als Identifikationsfigur aber auch für slowenischsprachige Kärntner
und Kärntnerinnen gestärkt werden. Viesèr lässt ihre Leser und Leserinnen an ei-
ner Stelle Hemmas Gedanken über die Bestrafungsaktionen ihres Gatten Wilhelm
gegen aufständische »Slaven«, die sich im Sanngau »gegen die deutschen Herren
empört« hatten, mitverfolgen.
Mit den Vögten mochte Wilhelm mit aller Strenge verfahren. Nichts schien ihr verächtli-
cher und hassenswerter, als Mißbrauch des Vertrauens und Gewalttätigkeit gegen die Hilf-
losen. Doch wie er sich wohl gegen die armen Windischen zeigte – sie hatte sie so lieb
gewonnen in den Jahren, da sie unter ihnen lebte. Sie waren sanft und geduldig und fleißig
wie ihre schönen, rahmweißen, glatten Kühe, anhänglich und diensteifrig. Sie trugen viel
in dumpfem Schweigen. Doch wenn es zu schwer wurde, dann schlug ihr Wesen in heimtü-
ckischen Haß, in Blutgier und starre, glühende Rachsucht um. Und Wilhelm sah in seiner
Erbitterung vielleicht nur dies. Es wäre doch gut gewesen, wenn sie hätte mitreiten können.
An ihr hingen sie alle mit unterwürfiger Zärtlichkeit, sie wußte es wohl.99
Viesèr bezeichnet sie hier bewusst als »Windische«, was historisch gesehen nicht
falsch ist, aber angesichts der zur Erzählzeit populär gewordenen »Windischentheo-
rie« Martin Wuttes,100 der zufolge die »Windischen« die Kärnten treuen Slowenen
seien, sicherlich doppeldeutig gelesen wurde. Es fällt darüber hinaus auf, dass die
»Windischen« hier ausschließlich als Untertanen gezeichnet werden, armselig, aber
liebenswürdig, solange man sie nicht zu sehr knechtete. Hemmas Wunsch, bei Wil-
helms Bestrafungsaktion als mildernder Teil dabei zu sein, kann hier auch auf den
öffentlichen Umgang mit den Kärntner Slowenen der Zwischenkriegszeit gedeu-
tet werden. Hemma könnte hier ohne Weiteres als Repräsentantin für die katholi-
sche Haltung gegenüber den slowenischsprachigen Bevölkerungsteilen, wie sie sich
Viesèr womöglich wünschte, stehen – wohlgesinnt und mütterlich, mit den Sympa-
thien der Untertanen –, Wilhelm hingegen für den deutschnational gesinnten Teil
jener Zeit – als herrischer, strafender Vater, als patrimonialer Gnadenherrscher. Die
»Windischen« bleiben in beider Augen jedoch »Untertanen« mit einem gefährli-
chen, ja labilen Gemüt, mit einem Potential zur Auflehnung gegenüber den Herren.
Viesèr treibt den Mythos von den »guten Windischen« und den »bösen Slawen«
an die Spitze, wenn sie schildert, wie Adalbero von Eppenstein sich mit den Letzte-
98 Till-Spausta, B.: Hemma von Gurk (2006), 114.
99 Viesèr, D.: Hemma von Gurk (1965), 208.
100 Wutte, M.: Deutsch – Windisch – Slowenisch (1930).
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353