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13Von
(Re-)Aktionsmustern zu Interaktionsfeldern
Seit den 1980er Jahren rückten teils von der erweiterten Strukturgeschichte, teils
von der sich davon abhebenden Alltagsgeschichte23 beeinflusste Arbeiten das Ver-
hältnis von NS-Herrschaft und ländlicher Gesellschaft stärker ins Zentrum. An-
statt des systemimmanenten Widerspruchs zwischen Agrarideologie und Kriegser-
nährungswirtschaft betonte dieser Ansatz den Widerspruch zwischen NS-System
und ländlichem Alltagsleben in Gestalt der Resistenz ländlicher „sozialmoralischer
Milieus“ gegenüber dem Zugriff des Nationalsozialismus, dem Leitmotiv des „Bay-
ern-Projekts“ um Martin Broszat.24 Als bevorzugtes Genre diente die Regionalstu-
die, die der milieubedingten „Beharrungskraft“ vor allem katholisch orientierter
bäuerlicher Bevölkerungsteile gegenüber den Anreizen und Zumutungen des NS-
Regimes – Erbhofrecht, Lebensmittelbewirtschaftung, Zwangsarbeitseinsatz und
so fort25
– aus der Nahsicht nachspürte. Demzufolge erwiesen sich die Akteure der
ländlichen Gesellschaft
– einschließlich der „Landfrauen“26
– als weniger passiv, als
die politik- und wirtschaftshistorische Forschung annehmen ließ ; sie zeigten sich
in durchaus aktiver Weise als resistent gegenüber Versuchen der „Gleichschaltung“
ländlicher Arbeits- und Lebensbereiche, etwa des Vereinswesens,27 nahmen aber
auch, etwa mittels Denunziationen,28 aktiv daran teil. Maßgebliche Regionalstu-
dien zur bäuerlich geprägten Agrargesellschaft stammen von Daniela Münkel,29
die auf die ambivalente Doppelrolle regionaler und lokaler Herrschaftsinstanzen
in einem niedersächsischen Landkreis hinwies, weiters von Beatrix Herlemann für
Niedersachsen, Theresia Bauer für Bayern und Jill Stephenson für Württemberg30.
Mario Niemann konstatiert auch für den mecklenburgischen Großgrundbesitz –
trotz der NS-Affinität jüngerer Gutspächter und -besitzer – eine milieubedingte
Distanz zum Nationalsozialismus, die sich aus protestantischen, monarchistischen
und konservativen Orientierungen speiste.31
Seit den 1990er Jahren hat im Zuge weiterreichender cultural turns der histori-
schen Wissenschaften das Unbehagen mit den etablierten Ansätzen
– dem der Na-
zifizierung ebenso wie dem der Resistenz
– zugenommen.32 Aus einer poststruktu-
ralistischen oder, genauer, „praxeologischen“33 Perspektive erscheinen nicht nur die
nationalgeschichtlich gerahmten Erzählungen über die Aktionen des NS-Regimes
als Ausdruck von Politik- und Wirtschaftsstrukturen obsolet. Auch die Regional-
studien zu den Reaktionen der ländlichen Gesellschaft, die ihren Gegenstand meist
entlang derselben politisch-ökonomischen Strukturen entwerfen, bleiben zwar
unbeabsichtigt, aber funktional der Systemperspektive verhaftet.34 Einen Ausweg
aus diesem Dilemma eröffnet der Entwurf ländlicher Gesellschaft nicht allein von
den Kommandohöhen des NS-Systems her, sondern auch aus der Alltagsperspek-
tive der Akteure – der weiblichen und männlichen – in Region, Dorf und Haus.35
Ausgangspunkt sind weder die Aktionen ‚von oben‘, noch die Reaktionen ‚von un-
ten‘ ; vielmehr sind es die eigensinnigen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Hand-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937